Juni 2023

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Big Data und KI: Wie mehr Wissen auf unsere Werte wirkt

Die Nutzung großer Datenmengen und Künstlicher Intelligenz (KI) ermöglicht immer präzisere Vorhersagen über Krankheitsverläufe und -risiken. Was dies für das Verständnis von Werten und Normen bedeuten könnte, untersuchen Forschende im Projekt CwiC.

Grafische Einblendung von Daten in eine Gesprächssituation

Dank Big Data und Künstlicher Intelligenz können zukünftige Gesundheitsrisiken immer präziser eingeschätzt werden. Das verbessert die medizinische Versorgung, verändert aber möglicherweise auch unsere Erwartungen beispielsweise an das Gesundheitssystem.

Have a nice day / Adobe Stock

Die Möglichkeit, unüberschaubar große Mengen an Daten auszuwerten, hat der Medizin in den vergangenen Jahren erhebliche Fortschritte gebracht. So kann mit zunehmend größerer Genauigkeit vorhergesagt werden, wann eine Person etwa an einem Herzleiden, an Demenz oder auch Diabetes erkranken wird. Von den so gewonnenen Erkenntnissen profitieren Patientinnen und Patienten schon seit geraumer Zeit. Die digitalen Methoden ermöglichen eine größere Sicherheit über das, was in Zukunft geschieht. Damit stellen sich aber auch Fragen zu ethischen, rechtlichen und ökonomischen Auswirkungen: Wie gehen wir mit den gewonnenen Erkenntnissen um, wie mit Gewissheiten, aber auch Ungewissheiten? Müssen Menschen beispielsweise das Recht haben, ein Diagnoseverfahren abzulehnen, und wie sollen oder dürfen Krankenkassen mit dem grundsätzlich verfügbaren Wissen umgehen?

Im Projekt „CwiC – Coping with Certainty“ (Umgang mit Gewissheit) untersuchen Juristen, Ethiker und Verhaltensökonomen in enger Kooperation, ob und wie sich womöglich die Haltung der Menschen in diesen Fragen grundsätzlich ändert. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) fördert das von dem Gießener Verfassungsrechtler Professor Steffen Augsberg koordinierte Forschungsprojekt von 2020 bis 2023 mit insgesamt rund 770.000 Euro.

Mehr Wissen könnte gesellschaftliche Normen verändern
„In der Menschheitsgeschichte haben wir uns daran gewöhnt, nicht zu wissen, was in der Zukunft geschieht. Auf die daraus folgende Unsicherheit haben wir uns eingestellt, indem wir beispielsweise in unserem Grundgesetz Werte und Normen wie Freiheit des Einzelnen, die Solidarität in der Gesellschaft oder auch die Sicherheit etwa durch eine Bundeswehr verankert haben“, erklärt Augsberg. Mit den Möglichkeiten der Verarbeitung großer Datenmengen aus verschiedenen Quellen (Big Data) bis hin zur Künstlichen Intelligenz (KI) ist heutzutage sehr viel mehr Wissen über zukünftige Ereignisse verfügbar. Das könnte beispielsweise stärker in der Prävention von Krankheiten genutzt werden. Augsberg ist überzeugt: „Das verändert potenziell nicht nur unsere Gesundheitsversorgung, sondern auch unser fundamental auf Ungewissheit eingestelltes Normengefüge.“ Um diese These zu prüfen, untersucht das CwiC-Team am Beispiel des Gesundheitssystems und des dort zentralen Konzepts der Solidarität, ob und wie sich normative Grundannahmen verändern und verschieben.

Veränderte Haltung erfordert womöglich neue Regelungen im Gesundheitssystem
Normen sind gesellschaftlich allgemein anerkannte Erwartungen und Vorstellungen davon, was, etwa aus moralisch-ethischer Sicht, richtig ist. Politisch und rechtlich verarbeitet ergeben sich Gesetze und Regelungen auf verschiedenen Ebenen. Im System der Gesetzlichen Krankenversicherung etwa gilt das Solidaritätsprinzip: Alle Versicherten erhalten grundsätzlich die gleiche Versorgung. Angesichts von präziseren Vorhersagen ließe sich dieses Prinzip hinterfragen: Sollen Menschen mit hohen Krankheitsrisiken oder Vorerkrankungen andere Beiträge zahlen, was darf das Individuum wissen, was die Solidargemeinschaft? Warum überhaupt noch Solidarität – oder jetzt erst recht? Muss das Gesundheitssystem stärkere Anreize zur Prävention setzen, oder soll das besser dem Individuum überlassen bleiben? Auch ganz persönlich muss jede und jeder Einzelne entscheiden, wie sie oder er mit der Möglichkeit zur präziseren Vorhersage der eigenen gesundheitlichen Zukunft umgeht. Das ändert womöglich die gesamte Lebensperspektive und wirft die Frage auf, welche Freiheit es geben muss, sich bereits gegen eine Diagnostik zu entscheiden.

Porträt Prof Dr. Steffen Augsberg

Prof Dr. Steffen Augsberg

Deutscher Ethikrat/Reiner Zensen

Kooperation von Ethik, Recht und Verhaltensökonomie bringt neue Perspektiven
„Unser Projekt ist innovativ, weil das Thema noch relativ wenig Aufmerksamkeit besitzt. Zudem führen wir erstmals einschlägige Expertise aus Ethik, Recht und Verhaltensökonomie zusammen und gewinnen dadurch neue Perspektiven“, erklärt Augsberg. Neben der Analyse der möglichen Auswirkungen auf ethische Grundwerte und gesetzliche Regelungen ist Augsberg zufolge die verhaltensökonomische Forschung ein zentrales Standbein. Dieses relativ neue Teilgebiet der Wirtschaftswissenschaften untersucht, inwieweit Menschen nicht allein rational im Sinne einer Nutzenmaximierung, sondern auch emotional und wertorientiert Entscheidungen treffen; deshalb wird ihr Verhalten differenziert unter verschiedenen Aspekten beobachtet. In diesem Sinne haben die Verhaltensökonomen im CwiC-Team unter anderem Befragungen vorgenommen, um festzustellen, ob und in welche Richtung sich die Haltung von Menschen und damit ihr Normenverständnis verändern. Dabei ging es beispielsweise um die Einstellung der Befragten zu Apps, wie sie im Rahmen der COVID-19-Pandemie zur Nachverfolgung von Kontakten eingesetzt wurden, und darum, wie Malus-Regelungen für Ungeimpfte einzustufen sind. Erfragt wurde auch, welche Anreize bei Impfungen wirken und ob beziehungsweise wie sich wissenschaftliche Erkenntnisse in das Versicherungssystem integrieren lassen.

Breite gesellschaftliche Debatte erforderlich
Mit dem Aufkommen der gendiagnostischen Verfahren und den Fortschritten in der Genom-Editierung, der Erbgutveränderung mithilfe molekularbiologischer Werkzeuge, entzündeten sich schon einmal intensive Diskussionen über die Frage, wie man mit gesichertem Wissen umgehen will; ein Fokus lag dabei auf dem Recht des Einzelnen auf Nichtwissen. Ein Ergebnis dieser Debatte war 2010 das Gendiagnostikgesetz mit seinen Regelungen zur Durchführung genetischer Untersuchungen zu medizinischen Zwecken, zur Klärung der Abstammung sowie im Versicherungsbereich und im Arbeitsleben. „Mit Big Data und Künstlicher Intelligenz erreichen wir heute eine ganz andere Qualität in der medizinischen Forschung und Versorgung, denn die Vorhersagen sind nicht nur wesentlich präziser, sondern wirken sich auch wesentlich umfassender aus“, erklärt Augsberg. Angesichts dieser Entwicklung verspricht das Forschungsteam daher auch nicht, als Ergebnis seiner Arbeit präzise Handlungsempfehlungen vorzulegen. Vielmehr will das CwiC-Team anhand der gewonnenen Erkenntnisse Leitlinien erarbeiten, die Dilemmata, Konflikte und gebotene Sensibilität im Umgang mit Big Data und KI im medizinischen Bereich aufzeigen. Augsberg resümiert: „Unsere Arbeiten betreffen letztlich grundlegende Fragen, die weit über den Gesundheitssektor hinausgehen. Ihre Beantwortung wird gesellschaftsprägende Wirkung haben. Daher brauchen wir eine breite gesellschaftliche Debatte zu diesen Fragen.“

ELSA-Forschung zu Digitalisierung, Big Data und Künstlicher Intelligenz

Digitale Anwendungen sind bereits fester Bestandteil der Gesundheitsforschung und -versorgung und werden in Zukunft eine noch größere Rolle spielen. Um eine sachgerechte und gesellschaftlich reflektierte Anwendung dieser Methoden sicherzustellen, bedarf es einer gründlichen Analyse von Chancen und Risiken. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) hat daher die Förderinitiative „Forschung zu ethischen, rechtlichen und sozialen Aspekten (ELSA) der Digitalisierung, von Big Data und Künstlicher Intelligenz in der Gesundheitsforschung und -versorgung“ ins Leben gerufen. Ein Ziel dieser Maßnahme ist es, die Auswirkungen der neuen Technologien auf Wissenschaft und Gesellschaft zu untersuchen und auf einen gesellschaftlich akzeptierten und verantworteten Rahmen für ihren Einsatz hinzuwirken. In der Fördermaßnahme werden zwischen 2019 und 2024 insgesamt 14 Forschungsverbünde mit bis zu 14,1 Millionen Euro gefördert, darunter auch das Verbundprojekt CwiC – Coping with Certainty. Die Erkenntnisse dieser Forschung werden über Leitlinien und Stellungnahmen breit zugänglich gemacht und ermöglichen so einen informierten und sachorientierten Diskurs über den verantwortungsvollen Umgang mit digitalen Methoden in der Gesundheitsforschung und -versorgung.

 Originalpublikation:
Von Ulmenstein, U., Tretter, M., Ehrlich, D. B., Lauppert von Peharnik, C. (2022). Limiting medical certainties? Funding challenges for German and comparable public healthcare systems due to AI prediction and how to address them. Front. Artif. Intell., 2022 Aug 01; 5-2022. DOI: 10.3389/frai.2022.913093

Ansprechpartner:
Prof. Dr. Steffen Augsberg
Professur für Öffentliches Recht
Justus-Liebig-Universität Gießen
Hein-Heckroth-Straße 5
35390 Gießen
E-Mail: augsberg@uni-giessen.de