Mit Rechenkraft und Statistik zu belastbaren Aussagen

Die EARLY-PROTECT-ALPORT-Studie belegt, dass Kinder mit Alport-Syndrom bereits in einem frühen Alter sicher und wirksam behandelt werden können. Im Interview erklärt Professor Tim Friede die Bedeutung der Auswahl der richtigen statistischen Methoden.

Porträt von Professor Tim Friede

Professor Tim Friede, Abteilung Medizinische Statistik der Universitätsmedizin Göttingen

DLR Projektträger / BMBF

Die Early-Protect-Alport-Studie untersucht die Wirkung eines Medikaments, das bereits als Blutdrucksenker zugelassen ist. Wieso ist das von Vorteil?

Die Arzneimittelentwicklung ist heute so aufwendig und kostspielig, dass sie eigentlich nur noch von der Industrie geleistet werden kann. Die therapeutische Forschung an den Universitätskliniken konzentriert sich daher verstärkt auf innovative und individualisierte Therapien wie Gen- und Zelltherapien. Oder auch auf das sogenannte Repurposing von Arzneimitteln, also auf den Einsatz von Medikamenten, die bereits für andere Erkrankungen zugelassen sind. Das hat den Vorteil, dass für diese Medikamente wichtige Nachweise – insbesondere zur Sicherheit – bereits erbracht wurden. Das hat uns bei der Early-Protect-Studie enorme Kosten und viel Zeit gespart. Aus meiner Sicht ist die Studie ein sehr gelungenes Beispiel für ein solches Repurposing-Projekt.

Um die Wirksamkeit und Sicherheit einer neuen Therapie nachzuweisen, werden in der Wissenschaft bevorzugt randomisierte kontrollierte Studien eingesetzt. Was verbirgt sich dahinter?

In wissenschaftlichen Studien gibt es zumeist mindestens zwei Behandlungsarme. Während die Patientinnen und Patienten des ersten Behandlungsarms das zu untersuchende Medikament erhalten, dient der zweite Arm als Kontrollgruppe und erhält beispielsweise ein Placebo. In randomisierten kontrollierten Studien werden, wenn möglich, die Patientinnen und Patienten den unterschiedlichen Behandlungsarmen nach dem Zufallsprinzip zugeordnet. Zudem wissen sowohl die Teilnehmenden als auch die behandelnden Ärztinnen und Ärzte in sogenannten doppelt-blinden Studien nicht, ob sie zum Therapie- oder zum Kontrollarm gehören. Dadurch werden viele Faktoren ausgeschlossen, die das Ergebnis verfälschen könnten, wie beispielsweise Unterschiede in der Behandlung und Erfolgsbeurteilung.

Vor welchen Herausforderungen standen Sie bei der Early-Protect-Alport-Studie?

Die Early-Protect-Studie ist eine Studie mit Kindern, die an einer seltenen Erkrankung leiden. Das sind gleich zwei Herausforderungen: Zum einen, weil Studien mit Kindern strengsten Regeln unterliegen. Und zum anderen, weil es nur sehr wenige Erkrankte gibt und es daher schwierig ist, genügend Studienteilnehmende zu rekrutieren. Diese Rahmenbedingungen haben den Einsatz einer randomisierten kontrollierten Studie enorm erschwert.

Wie sind Sie vorgegangen?

Wir hätten es uns auch einfach machen können und statt einer randomisierten kontrollierten Studie eine Beobachtungsstudie durchführen können. Dabei entscheiden Ärztinnen und Ärzte gemeinsam mit den Patientinnen und Patienten, welche Therapie zum Einsatz kommt. Der Nachweis der Wirksamkeit und Sicherheit ist dann aber wissenschaftlich nicht so belastbar wie bei einer randomisierten klinischen Studie. Deswegen haben wir uns dafür entschieden, den Ansatz der randomisierten kontrollierten Studie soweit wie möglich zu erhalten. Zusätzlich haben wir aber auch Beobachtungsdaten eingesetzt.

Woher stammen diese Beobachtungsdaten?

Sie stammen aus zwei verschiedenen Datenquellen. Wir haben Daten aus einem offenen Behandlungsarm genutzt, bei dem sowohl die Ärztinnen und Ärzte als auch die Studienteilnehmenden wussten, dass Ramipril eingesetzt wird. Als Kontrollgruppe dienten uns Daten einer unbehandelten Kohorte aus den USA.

Wie lassen sich zwei so unterschiedliche Ansätze statistisch auswerten?

Auswertungen von randomisierten kontrollierten Studien sind aufgrund des experimentellen Ansatzes recht einfach. Das ist bei Beobachtungsstudien deutlich schwieriger, weil man zunächst einmal die Vergleichbarkeit der Gruppen herstellen muss. Zudem wollten wir hier die Daten der randomisierten klinischen Studie im Licht der Daten aus der Beobachtungsstudie auswerten, also einen gewichten Ansatz verfolgen. Dafür benötigten wir eine relativ komplexe statistische Methodik, die wir parallel in einem von der Europäischen Union geförderten Projekt entwickelt haben.

Wie sieht das konkret aus?

Wir haben die Ergebnisse aus den Beobachtungsstudien geringer gewichtet, um sie mit denen aus der randomisierten kontrollierten Studie zusammenführen zu können. Im Fall von Early-Protect bedeutet das konkret, dass die 70 Teilnehmenden aus den Beobachtungsstudien letztlich den gleichen Informationsgehalt haben wie 23 randomisierte Studienteilnehmenden. Durch dieses Vorgehen konnte die Aussagekraft der randomisierten kontrollierten Studie deutlich gesteigert werden – und den behandelnden Ärztinnen und Ärzten mehr Sicherheit bei der Wahl der Therapie geben.

Das Alport-Syndrom, eine genetisch bedingte Nierenerkrankung, zählt zu den sogenannten Seltenen Erkrankungen. Eine Erkrankung gilt als selten, wenn nicht mehr als fünf von 10.000 Menschen von ihr betroffen sind.

Durch das Alport-Syndrom versagen die Nieren meist schon im Jugend- oder jungen Erwachsenenalter und die Betroffenen werden früh dialysepflichtig – eine enorme Belastung für sie selbst und ihre gesamte Familie. Die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) mit mehr als einer Million Euro geförderte Therapiestudie „EARLY PROTECT Alport“, hat den Nutzen und die Sicherheit einer frühen Behandlung mit dem Medikament Ramipril untersucht. Die Forschenden konnten nachweisen, dass die Therapie das Nierenversagen um viele Jahre – möglicherweise sogar Jahrzehnte – herauszögern kann. Das Medikament, ein sogenannter ACE-Hemmer (Angiotensin-Converting-Enzym), wird üblicherweise bei Erwachsenen zur Blutdrucksenkung eingesetzt.