Das Geschlecht kann die Entstehung und den Verlauf von Krankheiten beeinflussen – möglicherweise auch bei der chronischen Nierenkrankheit (CKD). Forschende des e:Med-Verbundes SYMPATH haben Genvarianten entdeckt, die dabei eine Schlüsselrolle spielen.
Chronische Nierenerkrankungen verlaufen bei Frauen anders als bei Männern – dafür sind unter anderem Genvarianten auf dem X-Chromosom verantwortlich.
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Etwa zehn Prozent der Weltbevölkerung leiden unter einer chronischen Nierenkrankheit – das heißt, sie haben ein höheres Risiko für Nierenversagen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krankenhausaufenthalte. Noch sind nicht alle Mechanismen der Krankheitsentstehung und -entwicklung bekannt, doch auffällig ist: Frauen sind häufiger betroffen als Männer, bei Männern schreitet die Krankheit aber schneller voran.
Dabei spielen unter anderem Gene auf dem X-Chromosom eine wichtige Rolle, wie Forschende des e:Med-Verbundes SYMPATH festgestellt haben. Bei ihren Untersuchungen fanden sie zum Beispiel sechs Genvarianten auf dem X-Chromosom, die Einfluss darauf haben, wie gut die Nieren funktionieren. Möglich wurde diese Entdeckung dank einer großangelegten Studie des internationalen Konsortiums CKDGen (Chronic Kidney Disease Genetics), bei der die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler klinische und molekulare Daten von mehr als 900.000 Menschen analysierten.
Wichtiger Schritt zur Erforschung geeigneter Therapieansätze
Die Erkenntnisse des Forschungsteams können den Weg für maßgeschneiderte Behandlungen eröffnen. „Jetzt haben wir geeignete genetische Ansatzpunkte, um die Mechanismen für das Entstehen und den Verlauf chronischer Nierenerkrankungen weiter zu untersuchen und geschlechtersensitive Therapieansätze zu entwickeln“, sagt Studienleiter Professor Dr. Markus Scholz vom Institut für Medizinische Informatik, Statistik und Epidemiologie (IMISE) der Universität Leipzig. Im Interview beschreibt er weitere Erkenntnisse des durch das Bundesministerium für Forschung, Technologie und Raumfahrt (BMFTR) geförderten SYMPATH-Verbundes.
Was ist das Besondere an der von Ihnen durchgeführten Studie?
Genetische Effekte sind im Allgemeinen gering und schwer messbar, deshalb ist es wichtig, die Daten möglichst vieler Personen zusammenzuführen. Das von Professorin Anna Köttgen in Freiburg geleitete CKDGen-Konsortium will weltweit alle relevanten Studien bündeln, die genetische oder andere biomedizinische Daten zur Nierenfunktion beinhalten. Dafür musste zunächst eine geeignete Plattform geschaffen werden. Unser Team bringt insbesondere in die Analyseprozesse Expertise ein.
Was war Ihre wichtigste Erkenntnis und welches Ergebnis hat Sie am meisten überrascht?
Wir haben uns Mutationen an verschiedenen Positionen des X-Chromosoms angeschaut und überprüft, ob und wie die dort gespeicherten Erbinformationen tatsächlich abgelesen wurden. An gleich sechs Stellen im Erbgut fanden wir unterschiedliche Effekte bei Männern und Frauen. Wir konnten zeigen, dass diese genetischen Varianten häufig wichtige Parameter der Nierenfunktion beeinflussen – wie zum Beispiel die Filtrationsrate der Niere und die Harnsäurekonzentration im Blut. Schließlich fanden wir Hinweise darauf, dass die beteiligten Gene durch Hormone reguliert werden. Das hilft uns, besser zu verstehen, warum chronische Nierenerkrankungen bei Männern und Frauen unterschiedlich häufig auftreten und unterschiedlich schwer verlaufen.
Warum haben Sie sich ausgerechnet das X-Chromosom ausgesucht?
Das X-Chromosom ist natürlich vielversprechend, wenn man nach geschlechtsspezifischen Unterschieden sucht – aber es ist nicht gerade ein offenes Buch. Der Grund: Bei Frauen liegen zwei X-Chromosomen vor, deren Erbinformationen zum Teil genutzt, zum Teil aber auch stillgelegt werden. Noch verstehen wir nicht genau, in welcher Weise und in welchem Umfang dies geschieht, aber das macht genetische Untersuchungen des X-Chromosoms methodisch anspruchsvoll. Wir haben neue Methoden der Qualitätskontrolle und der Analyse von geschlechtsabhängigen, genetischen Wechselwirkungen und ihrer Interpretation entwickelt, z. B. beziehen wir das Wissen zur hormonellen Regulation unserer Gene mit in die Analysen ein.
Könnte diese Methodik auch in anderen Bereichen von Nutzen sein?
Unsere Methodik lässt sich auf alle genomweiten Analysen und auf andere Untersuchungen übertragen. Das ist insbesondere bei Merkmalen und Krankheiten relevant, die deutliche Geschlechtsunterschiede aufweisen, wie zum Beispiel koronare Herzerkrankungen und Stoffwechselerkrankungen.
Das zentrale Forschungsthema im SYMPATH-Verbund sind Lungenentzündungen und ihr Einfluss auf Atherosklerose, die umgangssprachlich auch als Arterienverkalkung bezeichnet wird. Wie kamen da die Nierenerkrankungen ins Spiel?
Infektionen können Nierenschädigungen verursachen. Hier gibt es sehr spannende Parallelen, denn wir vermuten, dass bei der CKD ähnliche Mechanismen wie bei der Atherosklerose eine Rolle spielen – eine Frage, die wir künftig weiter untersuchen möchten.
Institut für Medizinische Informatik, Statistik und Epidemiologie (IMISE), Universität Leipzig
„Hormonelle Einflüsse spielen eine zentrale Rolle – das ist ein wichtiger Schritt zu einem besseren Verständnis des geschlechtsspezifischen Verlaufs der Erkrankung.“
„Chronische Nierenerkrankungen betreffen weltweit rund zehn Prozent der Bevölkerung. Die Erkrankung verläuft bei Frauen anders als bei Männern. In unserer Studie im SYMPATH-Verbund haben wir genetische Unterschiede auf dem X-Chromosom entdeckt, die diese Unterschiede erklären helfen. Eine besonders spannende Erkenntnis ist hierbei, dass hormonelle Einflüsse eine zentrale Rolle spielen – ein wichtiger Schritt zu einem besseren Verständnis des geschlechtsspezifischen Verlaufs der Erkrankung., Für unsere Studie haben wir neue Analyseverfahren entwickelt, die gezielt die komplexe Genetik des X-Chromosoms berücksichtigen. Diese Methoden lassen sich auch auf andere Erkrankungen übertragen, bei denen es Unterschiede zwischen Männern und Frauen gibt, etwa bei Herz-Kreislauf- oder Stoffwechselerkrankungen. Unser Ziel ist es, durch diese Erkenntnisse Grundlagen für gezielte geschlechtersensible Therapien zu erarbeiten.“