28.09.2022

| Aktuelle Meldung

Depressionen besser behandeln – Arztpraxen und Unikliniken stärker vernetzen

Die besonderen Herausforderungen antidepressiver Therapien auch in Regionen mit geringer Facharztdichte verbessern – das ist das Ziel von DECIDE. Das Projekt setzt dabei auf digitale Lösungen, von Künstlicher Intelligenz bis zur therapiebegleitenden App.

Frau mit dunkler Wollmütze schaut aus der Ferne auf Lichter in einer Stadt

Die Digitalisierung kann die Versorgung in Regionen mit geringer Facharztdichte deutlich verbessern. Beispielsweise durch Computermodelle, die Ärztinnen und Ärzte bei der Therapieplanung unterstützen. Oder durch Apps, die den Austausch zwischen Betroffenen und Behandelnden stärken.

finwal/Thinkstock

Um Patientinnen und Patienten mit Depressionserkrankungen bestmöglich therapieren zu können, müssen viele Behandelnde zusammenarbeiten: Hausärztinnen und Hausärzte, psychiatrische und psychotherapeutische Praxen, regionale Krankenhäuser und Unikliniken. Und das oft über lange Zeiträume, denn antidepressive Therapien verlaufen nicht selten über viele Jahre. Umso wichtiger ist es, dass beim Einholen einer Zweitmeinung oder beim Wechsel eines Behandelnden alle therapierelevanten Informationen weitergegeben werden. „Diesen Informationsfluss wollen wir optimieren – und zwar mit digitalen Werkzeugen. Indem wir einen schnelleren und reibungsfreien Austausch von Daten zwischen Ärzten, Therapeuten und Betroffenen ermöglichen, verbessern wir auch die Qualität der Versorgung“, so Dr. Torsten Panholzer. Er leitet die Abteilung Medizinische Informatik der Universitätsmedizin Mainz und koordiniert den Digitalen FortschrittsHub DECIDE, der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) in der Medizininformatik-Initiative gefördert wird.

„Die von uns mit dem Fraunhofer ITWM aktuell entwickelte Software kann aber noch mehr: Sie soll Ärztinnen und Ärzten künftig als digitaler Expertenberater zur Seite stehen, der sie bei der Therapieplanung unterstützt und ihnen die nächsten Schritte vorschlägt“, sagt Panholzer. Zudem entwickeln die Forschenden eine App. Über sie sollen Patientinnen und Patienten künftig jederzeit – nicht nur beim Termin in der Praxis oder Klinik – Rückmeldungen zum Verlauf ihrer Therapie geben können. Panholzer weiter: „Die App ist ein wichtiges Instrument für die Kommunikation zwischen Behandelnden und Betroffenen. In Verbindung mit Handgelenkssensoren wollen wir sie auch für die professionelle sportmedizinische Begleitung antidepressiver Therapien nutzen. Damit lässt sich modellhaft zeigen, wie telemedizinische Lösungen die Versorgungsangebote gerade in ländlichen Regionen verbessern können.“

2. Oktober 2022 – Europäischer Tag der Depression
Depressive Erkrankungen zählen zu den häufigsten Krankheiten. Sie betreffen allein in Deutschland knapp vier Millionen Bürgerinnen und Bürger. Das immer noch verbreitete Stigma psychischer Erkrankungen trägt dazu bei, dass viele Betroffene noch nicht die bestmögliche professionelle Hilfe erhalten. Der Europäische Tag der Depression soll dazu beitragen, das zu ändern.
European Depression Day – Europäischer Tag der Depression

PsychAssist-Software: Informationen teilen – Therapien bestmöglich planen

Künftig soll die vom DECIDE-Projekt entwickelte PsychAssist-Software allen Behandelnden die vollständige Betrachtung eines Falles ermöglichen: Wann kamen welche Medikamente oder Therapien zum Einsatz? Und vor allem: Mit welchem Erfolg? Um diese Informationen zu bündeln, dokumentiert während der Behandlung eine elektronische Fallakte den gesamten Therapieverlauf. Auf diese Daten können dann andere Behandelnde zugreifen, wenn sie dieselbe Patientin oder denselben Patienten gemeinsam versorgen oder die Therapie zumindest zeitweise fortführen.

Den digitalen Erfahrungsschatz von PsychAssist wollen Forschende künftig auch mit den Methoden der Künstlichen Intelligenz analysieren. Die gewonnenen Ergebnisse sollen helfen, aktuelle Leitlinien für antidepressive Therapien zu überprüfen und gegebenenfalls zu optimieren. Zudem können intelligente Datenanalysen dazu beitragen, die Erfolgschancen unterschiedlicher Therapiemöglichkeiten in jedem Einzelfall besser vorherzusagen. Solche Prognosemodelle sollen den Behandelnden künftig helfen, die Therapien bestmöglich zu planen. „Die Nutzung der Patientendaten zur Forschung setzt dabei stets das Einverständnis der Betroffenen voraus – und muss natürlich alle Anforderungen des Datenschutzes und der Datensicherheit erfüllen“, betont Panholzer.

Angebote der Unimedizin in ländlichen Regionen stärker nutzen

DECIDE soll die regionale Versorgung enger als bisher mit der Expertise und den spezialisierten Diagnostik- und Therapiemöglichkeiten der Universitätsmedizin verzahnen. „Wir wollen, dass die Menschen aus ländlichen Regionen künftig stärker von den Angeboten der Universitätsmedizin profitieren“, erläutert Hauke Felix Wiegand. Er ist Oberarzt an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Mainz und verantwortet die klinisch-psychiatrischen Inhalte des Projektes. „Wenn beispielsweise die Therapieoptionen einer Landärztin oder eines regionalen Psychiaters ausgereizt sind, schlägt das System jene Maßnahmen vor, die oft nur Unikliniken anbieten – beispielsweise spezielle Psychotherapien oder die Stimulation bestimmter Hirnregionen mit Magnetfeldern“, so Wiegand.

Wenn regionale Versorger die Betroffenen an die Uniklinik vermitteln, liegen dort – dank PsychAssist – bei der Übernahme bereits alle Informationen zum bisherigen Therapieverlauf vor. „Das hilft uns enorm, die Behandlung ohne Zeitverlust in der Uniklinik fortzusetzen. Sobald wir die Betroffenen aus unserer Behandlung entlassen, stellen wir den regionalen Versorgern wiederum alle relevanten Daten der Uniklinik zur Verfügung – inklusive eines Behandlungsplans für den gesamten weiteren Therapieverlauf“, so Wiegand. Über ein Kommunikations-Modul von PsychAssist kann die Universitätsmedizin mögliche Rückfragen der regionalen Versorger beantworten.

Den Austausch zwischen Betroffenen und Behandelnden fördern

Ergänzend zu PsychAssist wird DECIDE die App PsychGuide entwickeln. Sie soll den Informationsaustausch zwischen Behandelnden sowie Patientinnen und Patienten stärken, ohne dass Betroffene in ländlichen Regionen die oft weiten Wege zu den Praxen auf sich nehmen müssen. Damit die Funktionen der App genau auf die Bedürfnisse der Betroffenen zugeschnitten werden können, wird DECIDE bei ihrer Entwicklung eng mit Vertreterinnen und Vertretern von Betroffenen und Selbsthilfegruppen zusammenarbeiten.

Basierend auf den Behandlungsplänen und -Leitlinien soll die App die Patientinnen und Patienten über aktuelle Therapieschritte individuell informieren. Sie erinnert sie beispielsweise regelmäßig daran, per Fragebogen Angaben zu ihrer Lebensqualität und ihren Symptomen zu machen. Und über eine Tagebuch-Funktion können Betroffene jederzeit aktuelle Probleme dokumentieren, die sie beim nächsten Termin mit der Ärztin oder dem Therapeuten ansprechen wollen. All diese Angaben fließen über die App auch in das PsychAssist-System ein. So können die Behandelnden den Krankheitsverlauf unmittelbar verfolgen und mögliche Probleme direkt oder beim nächsten Patientengespräch aufgreifen.

Professionell begleitete Sport- und Bewegungsprogramme stehen in der ambulanten Versorgung depressiver Erkrankungen in ländlichen Gebieten nur selten zur Verfügung. „In Kooperation mit dem Institut für Sportwissenschaft der Uni Mainz wollen wir sportmedizinische Therapiebausteine aus der Ferne über die PsychGuide-App anbieten“, so Wiegand. Über mit der App gekoppelte Handgelenkssensoren des Projektpartners MCS Data Labs sowie über die Rückmeldungen der Teilnehmenden können Therapeutinnen und Therapeuten das Training begleiten und individuell anpassen.

DECIDE (Decentralized digital Environment for Consultation, data Integration, Decision making and patient Empowerment) ist einer der sechs ab Mitte 2021 gestarteten Digitalen FortschrittsHubs Gesundheit, für die das Bundesforschungsministerium bis 2025 insgesamt rund 50 Millionen Euro bereitstellt. Aufgabe der FortschrittsHubs ist es, die Pionierarbeiten der Medizininformatik-Initiative zur Digitalisierung in der Medizin aus den Unikliniken – zunächst in Pilotprojekten – in möglichst viele Bereiche des Gesundheitssystems einfließen zu lassen: von der ambulanten Versorgung in der Hausarztpraxis über den stationären Aufenthalt im örtlichen Krankenhaus bis zur Versorgung in Rehabilitationseinrichtungen.

Neben dem psychiatrischen Anwendungsfall und sportmedizinischen Angeboten arbeitet DECIDE daran, die Versorgung bestimmter Krebserkrankungen in ländlichen Regionen zu verbessern.

Mehr dazu im Medizininformatik-Dossier:

DECIDE: Versorgungsqualität in ländlichen Regionen verbessern

Digitale FortschrittsHubs Gesundheit

Medizininformatik – Vernetzen. Forschen. Heilen.