Gute Heilungschancen für Kinder mit Leukämie

Interview mit Professor Dr. Klaus-Michael Debatin
Professor Debatin, Ärztlicher Direktor der Universitätsklinik und Poliklinik Ulm, befasst sich seit mehr als 20 Jahren mit Leukämien bei Kindern. Er erforscht dabei insbesondere die Zellbiologie der Tumoren.

Was genau ist eine akute lymphatische Leukämie (ALL)?
Die ALL ist eine Form von Blutkrebs, also eine bösartige Erkrankung blutbildender Zellen. Sie ist die häufigste Krebserkrankung bei Kindern. Unbehandelt verläuft sie rasch tödlich. Bei den betroffenen Zellen handelt es sich um unreife Vorstufen von bestimmten Zellen des Abwehrsystems, den Lymphozyten. Lymphozyten gehören zu den weißen Blutkörperchen. Ein genetischer Irrtum führt dazu, dass die Vorläuferzellen den Wachstumssignalen des Körpers nicht mehr gehorchen und anfangen, sich unkontrolliert zu vermehren. Es werden kiloweise solche unreife Vorläuferzellen gebildet. Sie verdrängen schließlich im Knochenmark die normalen Zellen der Blutbildung.

Woran erkennt man, dass ein Kind Leukämie hat?
Das Tückische ist, dass die Leukämie zunächst gar keine Symptome verursacht. Die Kinder spüren nichts von der Krankheit, es bilden sich also keine Knoten oder Ähnliches. Was schließlich auffällt, sind die Folgen der gestörten normalen Blutbildung. Die Kinder sind blass, weil zu wenig rote Blutkörperchen produziert werden, sie bekommen schnell blaue Flecken, weil die Blutgerinnung nicht mehr richtig funktioniert, und sie neigen zu Infektionen, weil kaum noch gesunde Abwehrzellen vorhanden sind. All diese Krankheitszeichen treten leider aber erst auf, wenn die Leukämie bereits fortgeschritten ist.

Wie weisen die Ärzte eine Leukämie nach?
Sicher nachweisen kann man eine Leukämie nur durch eine Gewebeprobe aus dem Knochenmark. Im Blutbild, das der Hausarzt abnimmt, fallen eventuell eine Blutarmut auf oder ein Mangel an Blutplättchen, die für die Blutgerinnung wichtig sind. Die Leukämiezellen selbst verlassen in vielen Fällen das Knochenmark nicht. Deshalb kann ein Kind auch dann an Leukämie leiden, wenn in seinem Blut gar keine Leukämiezellen vorhanden sind. Eine Vorsorgeuntersuchung auf Leukämie existiert leider nicht.

Wie lässt sich Leukämie bei Kindern verhindern?
Gibt es Risikofaktoren?
Mögliche Risikofaktoren, zum Beispiel Umwelteinflüsse wie die Nähe von Atomkraftwerken, wurden oft untersucht. Ein Zusammenhang hat sich nicht nachweisen lassen. Auch die Tatsache, dass die Rate der jährlichen Neuerkrankungen in den letzten 20 Jahren konstant geblieben ist, spricht dagegen, dass Umweltfaktoren eine wesentliche Rolle spielen. Wir glauben heute eher, dass eine Leukämie zufällig entsteht. Bei Geweben wie dem Knochenmark, in denen sich Zellen sehr schnell teilen, besteht eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, dass sich Fehler ins Erbgut einschleichen. Manche dieser Fehler führen dazu, dass die Zellen sich unkontrolliert vermehren. Sehr interessant ist, dass Leukämien schon im Mutterleib entstehen können. Kinder, die häufig Infektionen haben und solche mit vielen Impfungen scheinen etwas seltener zu erkranken. Dasselbe gilt für Kindergartenkinder und Kinder mit mehreren Geschwistern.

Wie wird eine ALL behandelt?
Wir behandeln die ALL mit einer Chemotherapie, also mit Medikamenten, die die Tumorzellen vernichten. Leider helfen die Medikamente nicht bei jedem Patienten und bei jedem Tumor gleich gut. Mit unserem Projekt im Rahmen des Kompetenznetzes Pädiatrische Onkologie versuchen wir, die Ursachen dafür herauszufinden. In Deutschland ist die Therapie der Leukämie allerdings schon jetzt auch im internationalen Vergleich sehr erfolgreich, in einigen Bereichen sind wir weltweit Spitze. Inzwischen können wir bei etwa 70 Prozent der Kinder die ALL dauerhaft besiegen. Die Heilungschancen sind damit in den letzten 30 Jahren gigantisch gestiegen.

Sind bei der Therapie Neuentwicklungen zu erwarten?
Es gibt schon jetzt neue Medikamente, die spezifischer als ältere Produkte in das Krankheitsgeschehen eingreifen und die Krebszellen gezielter abtöten. Ein Beispiel ist die Substanz Imatinib Mesilat. Sie wurde eigentlich für Erwachsene entwickelt, wir setzen sie
aber auch bei Kindern erfolgreich ein. Imatinib Mesilat richtet sich gegen eine Struktur in den Leukämiezellen, die das Zellwachstum steuert. Dadurch dreht das Medikament dem Tumor quasi den Motor ab. Auch unsere Forschungen in Ulm werden zu neuen Wirkstoffen führen. Wir hoffen, dass wir innerhalb der nächsten fünf Jahre Arzneien zur Hand haben werden, die auf diesen Arbeiten basieren.

Worauf sollten Eltern bei ihrem Kind nach einer Chemotherapie achten?
Es ist möglich, dass die Leukämie zurückkehrt. Solche Rezidive können auch noch zehn Jahre nach der Therapie auftreten, allerdings sinkt das Risiko nach zwei bis drei Jahren beträchtlich. In den ersten zwei bis drei Jahren empfehlen wir den Eltern, sich immer in der behandelnden Klinik vorzustellen, wenn sie etwas Beunruhigendes an ihrem Kind beobachten. So können zum Beispiel bis zu zwei Jahre lang geringfügige Defekte im Immunsystem nachgewiesen werden. Die Kinder sind also anfälliger für Infektionen. Ungewiss ist, ob die Chemotherapie langfristige Nebenwirkungen hat, die sich erst nach 30 oder mehr Jahren bemerkbar machen. Trotz der möglichen Risiken darf man aber nicht vergessen, dass eine ALL ohne Chemotherapie fast immer zum Tode führt.