Hausarzt als Lotse - in der Praxis kaum zu realisieren

Interview mit Professor Dr. Michael M. Kochen, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM), über Stärken und Schwächen der hausärztlichen Versorgung.

Herr Professor Kochen, leisten die deutschen Hausärzte gute Arbeit?
Die deutschen Hausärzte leisten ganz überwiegend gute Arbeit. Sie halten mit ihrem Engagement das Gesundheitssystem aufrecht. Hinzu kommt ein hervorragender Service. Längere Wartezeiten auf einen Arzttermin, wie sie in Großbritannien und auch in Skandinavien die Regel sind, kennen wir in Deutschland nicht.

Wo hat die hausärztliche Versorgung in Deutschland Schwächen?

Die größte Schwäche ist, dass wir in Deutschland kein Hausarztsystem im engeren Sinn haben, sondern ein System des freien Marktes. Jeder geht mit seiner Chipkarte zu dem Arzt, zu dem er will. Dadurch wird es Hausärzten schwer gemacht, für die Patienten tatsächlich zu Lotsen durch das Gesundheitssystem zu werden, wie es immer wieder gefordert wird. Auch das Gebührensystem hat Defizite. Das Honorar des Arztes sollte sich nicht wie bisher ausschließlich an der Patientenzahl orientieren, sondern zum Beispiel auch daran, wie krank seine Patienten sind. Es leuchtet nicht ein, dass es für die Behandlung eines Patienten mit Schnupfen das gleiche Geld gibt wie für die Betreuung eines schwer kranken, multimorbiden Patienten.


Sie haben festgestellt, dass viele Ärzte sich nicht an Therapieleitlinien halten. Woran liegt das?
Die meisten Ärzte kennen den Inhalt der Leitlinien durchaus und halten sich trotzdem oft nicht daran. Das ist keineswegs nur ein deutsches, sondern ein internationales Phänomen und gilt im übrigen auch für niedergelassene Spezialisten und Klinikärzte. Warum Leitlinien nicht ausreichend berücksichtigt werden, ist immer noch ein kaum erforschtes Geheimnis. Zu den bekannten Umsetzungsbarrieren in der täglichen Praxis gehören kognitive Faktoren beziehungsweise persönliche Einstellungen und Zeitmangel. In der Allgemeinmedizin ist darüber hinaus von Bedeutung, dass Leitlinien, die von Spezialisten entwickelt wurden, sich nur selten für die Hausarztpraxis eignen. So berücksichtigen manche dieser Empfehlungen zum Beispiel zu wenig, dass viele Patienten in der Hausarztpraxis an mehreren chronischen Krankheiten gleichzeitig leiden. Außerdem wird neben der zwangsläufig unterschiedlichen Arbeitsweise oft auch sträflich vernachlässigt, dass bestimmte Krankheiten bei Fachärzten und bei Hausärzten ganz unterschiedlich häufig vorkommen.

Wie müssen Leitlinien gestaltet sein, damit sie Hausärzten eine Hilfe sind?
Hausärztliche Leitlinien sollten wissenschaftliche Belege nennen und von Hausärzten verfasst werden. Sie können die Anforderungen und den Arbeitsalltag in der Hausarztpraxis am besten einschätzen. Dann müssen die Leitlinien in hausärztlichen Praxen daraufhin überprüft werden, ob sie umsetzbar sind. Die hausärztliche Fachgesellschaft DEGAM hält sich ausnahmslos an diese Regel. Die Leitlinien sollten kurz und übersichtlich sein, sich in die Praxissoft ware integrieren lassen und regelmäßig überarbeitet werden. Außerdem dürfen die Autoren nicht im Verdacht stehen, kommerzielle Interessen zu verfolgen. Eine kürzliche Untersuchung in der Zeitschrift Nature* hat ergeben, dass erstaunlich viele Autoren Verbindungen zu Firmen haben, deren Medikamente sie in den Leitlinien empfehlen.
* Taylor R, Giles J: Nature 2005; 437: 1065-1066

Wie kann die Qualität der hausärztlichen Versorgung weiter verbessert werden?
Ein wichtiges Instrument sind so genannte Qualitätszirkel. Dort treffen sich regelmäßig interessierte Hausärzte, um Patientenprobleme und bestimmte Vorgehensweisen zu diskutieren. Ein Kollege übernimmt die Moderation, manchmal wird auch ein externer Experte eingeladen. Dieser kollegiale Austausch ist sehr wichtig. Aus demselben Grund begrüße ich den Trend zu Gemeinschaftspraxen. Darüber hinaus müssen sich die Weiterbildungsstrukturen für künftige Hausärzte - vielleicht auch für Spezialisten - verbessern. Wer Hausarzt werden will, ist bei uns meist sich selbst überlassen und muss jeden Teil seiner Weiterbildung mühsam in eigener Regie organisieren. In England oder Holland sind dagegen für jeden angehenden Hausarzt vom ersten bis zum letzten Tag der Ausbildung alle Stationen festgelegt. Inzwischen gibt es bei uns immerhin einige Verbünde von Kliniken und Praxen, die zukünftigen Allgemeinmedizinern die Arbeit auf den verschiedenen Weiterbildungsstationen im Rotationsverfahren ermöglichen. Auch im Hochschulbereich besteht erheblicher Verbesserungsbedarf. Von den 35 medizinischen Fakultäten in Deutschland haben zum Beispiel nur acht einen vollwertigen Lehrstuhl für Allgemeinmedizin. Zwar haben wir in der universitären Lehre trotzdem bereits einen hervorragenden Qualitätsstandard erreicht. Für die Forschung besteht in diesem Bereich aber wegen der relativ geringen kritischen Masse noch Aufholpotenzial.

Woran erkennen Patienten einen guten Hausarzt?
Die meisten Hausärzte betreuen ihre Patienten über viele Jahre. Das macht einen wichtigen Informationsvorsprung gegenüber den meisten Spezialisten und Krankenhausärzten aus. Dieses langjährige Vertrauensverhältnis stellt schon so etwas wie eine Abstimmung mit den Füßen dar. Allerdings achten die Patienten nicht nur auf die medizinische Qualität, die ja oft auch nur schwer beurteilt werden kann. Für sie ist es genauso wichtig, dass das Personal freundlich ist, dass keine langen Wartezeiten entstehen und dass sich der Arzt Zeit für ihre Anliegen nimmt. Letzteres wird durch unsere Gebührenordnung allerdings gründlich behindert.