September 2017

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Körperliche und emotionale Gewalt beeinflussen den Stresshormonspiegel bei Kindern

Werden Kinder vernachlässigt oder misshandelt, so wirkt sich das einer aktuellen Studie zufolge dauerhaft auf ihren Stresshormonspiegel aus. Frühzeitige Therapie- und Unterstützungsprogramme können diese Folgen möglicherweise abwenden.

Tagtäglich werden Kinder Opfer von Gewalt. Oft leiden sie ihr Leben lang unter den Folgen. Dennoch ist bislang wenig darüber bekannt, wie sich die belastenden Erfahrungen auf die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen auswirken und wie ihnen effektiv geholfen werden kann.

Um Antworten auf diese Fragen zu finden, haben Forschende der Universität Leipzig den Cortisol-Spiegel von mehr als 500 Kindern im Alter von 3 bis 16 Jahren analysiert. Cortisol ist ein Hormon, das der Körper unter Stress ausschüttet. Aber auch im normalen Tagesverlauf benötigt der Körper eine gewisse Menge an Cortisol, die als Grundspiegel bezeichnet werden kann. Da Cortisol über einen längeren Zeitraum in den Haaren nachweisbar ist, konnten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Haarproben der Kinder den Cortisol-Pegel der vergangenen Monate nachvollziehen. Ihre Ergebnisse zeigen, dass dieser bei Kindern, die Misshandlungen oder Vernachlässigung erfahren haben, ab einem bestimmten Alter deutlich unter dem nicht misshandelter Kinder liegt.

„Bei chronischem Stress – unter dem die misshandelten Kinder leiden – fällt der Cortisol-Grundspiegel ab einem gewissen Punkt ab. Er fällt unter den normalen Wert, da der Körper quasi mit einer Erschöpfungsreaktion auf die belastende Situation antwortet. Dies geschieht womöglich, um andere Körpersysteme vor dauerhaft hohen Cortisol-Ausschüttungen zu schützen“, erläutert Dr. Lars White, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Kindes- und Jungendalters am Universitätsklinikum Leipzig.

Ein kleiner Junge sitzt alleine in einer Sofaecke.

Misshandelte oder vernachlässigte Kinder leiden oft ihr Leben lang unter den Folgen

SolStock/iStockock

Die Stressregulationssysteme der Kinder, die dauerhaft hohem Stress ausgesetzt sind, büßen so zunehmend ihre Funktion ein. Das kann gravierende Folgen haben: Der veränderte Cortisol-Grundspiegel kann neurobiologische Veränderungen im Körper hervorrufen, die sich beispielsweise in einer gesteigerten Aggressivität, Hyperaktivität oder Ängstlichkeit äußern. Auch können sie eine Ursache dafür sein, dass misshandelte Kinder in ihrem späteren Leben ein erhöhtes Risiko für körperliche Krankheiten haben. „Unsere Ergebnisse zeigen, dass die belastende Situation bei den Kindern etwa ab dem neunten Lebensjahr zu einem niedrigeren Cortisol-Grundspiegel führt. Bei jüngeren Kindern konnten wir diese Veränderung nicht beobachten“, ergänzt White. „Um die Erschöpfungsreaktion und damit den Abfall des Cortisol-Grundspiegels zu verhindern, brauchen wir daher Therapie- und Unterstützungsprogramme, die frühzeitig einsetzen. So können wir den Kindern helfen und die langfristigen Folgen für ihr Stressregulationssystem verhindern.“

Interdisziplinäres Forschungsprojekt untersucht die Folgen von Vernachlässigung und Gewalt

Die Ergebnisse gehen aus dem Forschungsprojekt AMIS („Analyzing Pathways from Childhood Maltreatment to Internalizing Symptoms and Disorders in Children and Adolescents“) hervor, das durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wurde. Ziel des Projektes ist es, das Zusammenspiel der unterschiedlichen Faktoren zu untersuchen, die zu den langfristigen Folgen von Misshandlung und Vernachlässigung führen. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler analysieren daher neben der belastenden Lebenssituation auch die individuellen Möglichkeiten der Bewältigung, die soziale Unterstützung sowie mögliche vererbbare Schutz- und Risikofaktoren. So können sie zukünftig die Wahrscheinlichkeit besser einschätzen, mit der die Kinder beispielsweise an Angststörungen oder Depression erkranken, und gegebenenfalls bereits im Vorfeld eine individuell angepasste Therapie anbieten.

Das Konsortium, das AMIS durchführt, besteht aus Fachkräften aus der Medizin, der Psychologie und der Neurobiologie. Zudem beteiligen sich die Leiter von zwei großen deutschen Jugendämtern an den Untersuchungen. Die Forschenden führten intensive Gespräche mit den Kindern und ihren Eltern und ließen sie sowie ihre Lehrerinnen und Lehrer umfangreiche Fragebögen ausfüllen. Darüber hinaus werteten sie Berichte der Jugendämter aus und führten neurobiologische und genetische Analysen durch. Dabei zeigte sich, dass es von großer Bedeutung ist, dass die unterschiedlichen Perspektiven zusammengeführt werden. Kombinierten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Sicht der Kinder mit den Perspektiven der Eltern und der Mitarbeitenden des Jugendamtes, so ließ sich das Risiko für eine psychische Erkrankung zuverlässiger einschätzen.

Im Verlauf von AMIS wurden in vier großen Stichproben insgesamt 966 Kinder und Jugendliche in Leipzig und München untersucht. Es handelt sich bislang um die größte Stichprobe in diesem Bereich in Deutschland.

Ansprechpartner:

Dr. Lars O. White
Universität Leipzig, Medizinische Fakultät
Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychotherapie
und Psychosomatik des Kindes- und Jugendalters
Liebigstraße 20 a
04103 Leipzig
LarsOtto.White@medizin.uni-leipzig.deundefined