Mit schärferem Blick - Neue Methode erfasst den Pflegebedarf von Heimbewohnern ganz individuell

Immer mehr Menschen in Deutschland sind pflegebedürftig. Umso wichtiger ist es, dass sich Forschungsprojekte damit beschäftigen, die Alltagsfähigkeit pflegebedürftiger Menschen zu erhalten und die pflegerische Versorgung von Bewohnerinnen und Bewohnern in Langzeitpflegeeinrichtungen zu optimieren. (Newsletter Nr. 52 / Juli 2011)

Ein Ansatz ist die Einführung eines Verfahrens, mit dessen Hilfe Pflegekräfte den Bedarf an Pflege und Therapie für jeden einzelnen Pflegebedürftigen genau erfassen und planen können. Es heißt Resident Assessment Instrument, kurz RAI. Eine Studie hat nun gezeigt, dass RAI den Blick der Pflegekräfte auf die Bedürfnisse der Patienten verbessert.

Mit der wachsenden Lebenserwartung steigt im Durchschnitt auch die Zahl der Menschen, die auf Hilfe angewiesen sind. Derzeit leben in Deutschland mehr als 2,3 Millionen Pflegebedürftige - Tendenz steigend. Bereits im Jahr 2020 soll die Zahl der Pflegebedürftigen Schätzungen zufolge auf 2,9 Millionen anwachsen. Für das Jahr 2050 erwarten Experten einen Anstieg auf 4,5 Millionen Betroffene - im Vergleich zu heute ist das fast eine Verdopplung. "Obwohl es nachweisliche Fortschritte in deutschen Einrichtungen zur stationären Langzeitpflege gibt, können wir die Qualität der Betreuung weiterhin verbessern", sagt Christiane Becker vom Institut für Gesundheits- und Pflegewissenschaft an der Universität Halle-Wittenberg. Hierzu prüfen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vom Pflegeforschungsverbund Mitte-Süd die Wirksamkeit verschiedener pflegetherapeutischer Ansätze. Ein Ansatz ist das Resident Assessment Instrument, kurz RAI.  

 Gezieltere Pflege durch RAI und interdisziplinäre Zusammenarbeit?

"RAI ist ein sogenanntes Beurteilungs- oder Bewohner-Einschätzungsinstrument. Es bietet die Möglichkeit für jeden einzelnen Heimbewohner den Pflegebedarf und mögliche Pflegeprobleme genau zu erfassen und so die Versorgung gezielter zu planen", erklärt Becker.

Das Resident Assessment Instrument wird bereits in vielen Ländern, unter anderem in den USA, in der Schweiz, in Japan und Dänemark erfolgreich in der stationären Langzeitpflege eingesetzt. Beim RAI haben alle Berufsgruppen, die an der Betreuung beteiligt sind, also Pflegende, Hausärzte, Physiotherapeuten, Ergotherapeuten und sonstige Betreuungskräfte, die Möglichkeit, Angaben zum Versorgungsbedarf der Heimbewohnerinnen und -bewohner zu machen. Dies soll die fachübergreifende Zusammenarbeit der verschiedenen Berufsgruppen in der Langzeitpflege fördern und die Versorgungsqualität nachhaltig verbessern. Praktisch funktioniert das so, dass eine Hauptpflegekraft mit Hilfe eines Fragebogens eine detaillierte Einschätzung zu pflegerischen und therapeutischen Fragen vornimmt. "In der Regel erfolgt diese Einschätzung in einem Abstand von sechs Monaten", so Becker. Die weiteren den Bewohner betreuenden Berufsgruppen werden um ihre Einschätzung in spezifischen Bereichen gebeten. "Ein EDV-Programm ermittelt dann aus dieser Einschätzung kritische geriatrische Problembereiche der Bewohner, die durch die Pflegenden zu bearbeiten sind", beschreibt Becker.  

 Pflegestufen oder Pflegeaufwandgruppen - was ist der Unterschied?   

Bei der Anwendung des RAI werden die Bewohnerinnen und Bewohner in eine von 44 unterschiedlichen Pflegeaufwandgruppen eingeteilt. "Diese Pflegeaufwandgruppen bilden den Pflegeaufwand differenzierter ab als die vier Pflegestufen, die es in Deutschland gibt", erklärt Becker. Das Besondere dabei ist, dass sich diese Pflegeaufwandgruppen allein aus den Einschätzungen der Pflegenden im Rahmen der normalen Versorgung ergeben. Es erfolgt keine externe Begutachtung durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK). "In anderen Ländern dient dieses System bereits der Finanzierung von Pflegeleistungen."

Ob eine Umsetzung des RAI in Deutschland die Qualität der Pflege von Heimbewohnerinnen und -bewohnern verbessern kann, untersuchen die Pflegeforscher derzeit mit Unterstützung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) in einer kontrollierten Studie. Hierzu wurden 19 Einrichtungen der stationären Langzeitpflege aus Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen in die Studie einbezogen. Die teilnehmenden Einrichtungen wurden per Zufallsprinzip einer Interventions- und einer Kontrollgruppe zugeteilt. In den Einrichtungen der Interventionsgruppe wurde RAI eingeführt. "In diesen Einrichtungen haben wir die Pflegekräfte vorab in der Anwendung des RAI-Instruments geschult. Im Verlauf der Studie gab es regelmäßige Fallbesprechungen und bei Fragen und Problemen konnten die Pflegekräfte eine Hotline anrufen", erklärt Becker.

Zu Beginn der Studie sowie sechs und zwölf Monate nach Einführung des RAI wurden die Pflegebedürftigkeit und Alltagsfähigkeit der Heimbewohner erfasst. Aus dieser Erhebung lassen sich 24 Qualitätsindikatoren der Langzeitpflege abbilden, die einen Vergleich zwischen verschiedenen Pflegeeinrichtungen ermöglichen. Des Weiteren wurde die Zufriedenheit mit dem Leben im Pflegeheim, die Lebensqualität und die Qualität der Pflegedokumentation betrachtet. Auch bei den betreuenden Pflegekräften wurden die gesundheitsbezogene Lebensqualität, die Arbeitsbelastungen sowie die Handhabbarkeit der Pflegedokumentation ermittelt. Becker: "Hierbei war uns wichtig, die potenzielle (Mehr-)Belastung durch die Anwendung des RAI im Pflegealltag auf die Pflegenden zu beobachten."  

 Hörgerät und Zahnprothese: Mit RAI wird beachtet, was sonst übersehen wird  

Das Ergebnis aus Sicht der Pflegekräfte steht schon jetzt fest: Durch RAI können sie den Hilfebedarf der Bewohner besser und umfassender erkennen. "Die Pflegekräfte haben uns bestätigt, dass sie mit Hilfe von RAI einen anderen Blick auf die Bewohner haben. Ihre Beobachtungs- und Beurteilungsfähigkeit verbessert sich. Sie beachten nach eigenen Angaben Dinge, die sie sonst wohl übersehen hätten - zum Beispiel, dass ein Bewohner häufigere und stärkere Schmerzen als ursprünglich angenommen hat, dass eine traurige Stimmungslage eine Bewohnerin im Alltag sehr einschränkt, dass Hörgeräte nicht mehr richtig eingestellt oder defekt sind oder dass ein Bewohnerzuviel Gewicht verloren hat, weil die nicht mehr passende Zahnprothese das Essen erschwert", sagt Becker. Zudem werden die Pflegenden durch das RAI angeleitet, bei der individuellen Pflegeplanung verstärkt auch rehabilitative Maßnahmen zur Steigerung der Alltagsfähigkeit umzusetzen. "All das führt dazu, dass auch die Angehörigen das Verfahren sehr positiv beurteilen."

Um allerdings bei den Bewohnerinnen und Bewohnern eine Verbesserung in der Pflegequalität zu erkennen, war der Untersuchungszeitraum von einem Jahr zu kurz. "Klar ist aber, dass Pflegeheimbewohner davon profitieren, dass sie mit dem RAI individuell und ihrem Pflegebedarf angemessen versorgt und vorhandene Rehabilitationspotenziale gestärkt werden", fasst Becker zusammen.  


Fakten zum Pflegeforschungsverbund Mitte-Süd
Bislang ist der Einfluss vieler pflegetherapeutischer Handlungen nicht geprüft und erwiesen. Aus diesem Grund hat sich der Pflegeforschungsverbund Mitte-Süd zur Aufgabe gemacht, die Wirksamkeit komplexer professioneller Pflege bei Patienten mit chronischen Krankheiten und langer Pflegebedürftigkeit besonders in kommunikativ schwierigen Situationen zu erforschen. In verschiedenen Teilprojekten untersuchen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Sachsen-Anhalt, Sachsen, Thüringen, Bayern, Baden-Württemberg und Hessen zum Beispiel die Pflege von Demenzkranken, Chemotherapie-Patienten und Patienten auf der Intensivstation. Der Pflegeforschungsverbund wird seit 2004 vom BMBF im Rahmen des Förderschwerpunktes Pflegeforschung gefördert und von Prof. Dr. Johann Behrens vom Institut für Gesundheits- und Pflegewissenschaft an der Universität Halle-Wittenberg geleitet.


Ansprechpartner:
Christiane BeckerI
nstitut für Gesundheits- und Pflegewissenschaft
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Magdeburger Straße 806097 Halle/Saale
Tel.: 0345 5 57-44 72
Fax: 0345 5 57-54 31
E-Mail: christiane.becker@medizin.uni-halle.de