Schmerztherapie aus der Steckdose

Mit schwachem Gleichstrom, der auf die Gehirnzellen einwirkt, lassen sich chronische Schmerzen und Migränebeschwerden reduzieren. Durch den Schädelknochen hindurch kann der Strom die Erregbarkeit der Hirnzellen verändern und damit die Schmerzwahrnehmung mindern. Neurowissenschaftler der Universität Göttingen konnten die Wirksamkeit der Gleichstromstimulation beim Menschen belegen.

Mit finanzieller Unterstützung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) wollen die Forscher eine nichtinvasive neurophysiologische Behandlungsmethode entwickeln. Bevor die Gleichstrombehandlung als ein neues Therapieverfahren einsetzbar wird, sind weitere klinische Studien notwendig, um mögliche Nebenwirkungen auszuschließen und die optimale Stimulationsdauer und -intensität zu ermitteln.


Sanftes Kribbeln verändert die Gehirnzellen
Knapp 20 Minuten lang stimulieren die Forscher mit schwachem Gleichstrom durch den Schädelknochen hindurch (transkraniell) die Nervenzellen in der äußeren Hirnrinde. Es kribbelt leicht oder juckt dort, wo die Elektroden die Kopfhaut berühren. Wie die Strombehandlung auf chronische Schmerzen und Migräneattacken wirkt, ist Forschungsthema der Göttinger Neurophysiologen. Durch die transkranielle Gleichstromstimulation (tDCS) verändert sich die elektrische Ladung an der Nervenzellmembran. Das verstärkt oder dämpft die Erregbarkeit der Gehirnzellen. Bei einer verminderten Erregbarkeit sinkt die Schmerzwahrnehmung. Wird ausreichend lange stimuliert, halten diese Veränderungen auch nach der Behandlung an. Ein bis zwei Wochen lang behandelt das Forscherteam täglich für 15 bis 20 Minuten das Gehirn ihrer Schmerzpatienten mit Strom. Alternativ setzen die Wissenschaftler magnetische Impulse in der repetitiven transkraniellen Magnetstimulation (rTMS) ein. „Wir konnten in unseren Versuchen eine positive Wirkung von tDCS und rTMS auf chronische Schmerzen, künstlich mit dem Laser verursachte Schmerzen und Migräne nachweisen“, erklärt Projektleiter Professor Walter Paulus.

Neuroplastizität - der Schlüssel zu neuen Therapien
Das über Jahrzehnte herrschende Dogma, dass sich unser Gehirn im Erwachsenenalter nicht mehr verändert, weil die Nervenzellen nicht mehr nachwachsen und keine neuen Schaltkontakte knüpfen, gilt als widerlegt. Forschungsergebnisse zeigen, dass das zentrale Nervensystem bis ins hohe Alter sehr wohl fähig ist, sich zu verändern und anzupassen. Die sogenannte Neuroplastizität (Veränderbarkeit) spielt eine wichtige Rolle für Lern- und Gedächtnisprozesse.

Fehlgeleitete neuroplastische Veränderungen wirken jedoch nachteilig. Hirnforscher nehmen an, dass sie die Ursache für viele chronische Schmerzsyndrome, Migräne, Tinnitus oder neurologische Erkrankungen sind. Sie suchen daher nach Lösungen, wie sie die Neuroplastizität beeinflussen und therapeutisch nutzen können.

Die Umstrukturierungen in den Gehirnzellen können beispielsweise dazu führen, dass die Zelle die unzähligen und ständig auf sie einströmenden Signale nicht mehr richtig verarbeiten kann. So ist bei Migränepatienten die Erregbarkeit der Nervenzellen in der für das Sehen zuständigen Hirnregion erhöht. „Mit der Gleichstromstimulation wollen wir die Übererregbarkeit drosseln und so Migräneattacken verhindern“, erklärt Paulus den Wirkmechanismus. In weiteren klinischen Studien mit Schmerz- und Migränepatienten untersuchen die Göttinger Wissenschaftler, wie sie die Gleichstromtherapie in ein akzeptiertes und sicheres therapeutisches Verfahren umsetzen können. Paulus: „Dann stünde zahlreichen Betroffenen mit chronischen Schmerzen und Migräne eine wirksame Therapiealternative zur Verfügung.“

Ansprechpartner:
Prof. Dr. Walter Paulus
Universitätsklinikum Göttingen
Abteilung Klinische Neurophysiologie
Robert-Koch-Straße 40
37075 Göttingen
Tel.: 0551 39-6650
Fax: 0551 39-8126
E-Mail: wpaulus@med.uni-goettingen.de

 

Elektrotherapieformen
Transkranielle Gleichstromstimulation (tDCS): Ein sehr schwacher, kontinuierlicher Gleichstrom stimuliert das Gehirn für mehrere Minuten. Die Behandlung ist schmerzlos und die Patienten sind bei Bewusstsein. In klinischen Studien untersuchen Forscher die Wirksamkeit bei Schmerzen, Epilepsie, Morbus Parkinson, Multipler Sklerose, Spastik und nach einem Schlaganfall.
Repetitive transkranielle Magnetstimulation (rTMS ): Kurze und hochfrequente Stimulation mit einem starken Magnetfeld löst im Gehirn einen elektrischen Strom aus. Mindestens 1.000 Impulse von weniger als einer Millisekunde Dauer werden täglich abgegeben. Die Wirkung der schmerzlosen Behandlung auf schwerste Depressionen und Epilepsien sowie chronische Schmerzen wird derzeit in Studien untersucht. Im Gegensatz zur Gleichstrombehandlung kann die rTMS Krampfanfälle auslösen.
Elektrokrampftherapie: Bei schweren Depressionen, die nicht auf Medikamente ansprechen, setzen Psychiater die Elektrokrampftherapie ein. Die Patienten bekommen eine kurze Vollnarkose und ein Medikament gespritzt, das die Muskulatur entspannt. Mit kurzen starken Stromstößen wird das Gehirn gereizt und ein Krampfanfall ausgelöst. Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesärztekammer hat 2003 die Elektrokrampftherapie als wissenschaftlich begründete Therapie bestätigt, die im Verhältnis zum Behandlungserfolg mit einem geringen Risiko verbunden ist.