Was bringt Versorgungsforschung den Patienten? - Interview mit Dr. Ingrid Schubert

Jedes Jahr erleiden etwa 250.000 Menschen in Deutschland einen Herzinfarkt. Welche Therapie dann die beste ist, haben Ärzte und Wissenschaftler in Leitlinien zusammengefasst. Ob diese Behandlungsempfehlungen im Alltag von den Ärzten umgesetzt werden, hat die „PMV forschungsgruppe“ unter Leitung von Dr. Ingrid Schubert anhand von Krankenkassendaten untersucht. Es gibt erste Hinweise, dass Infarktpatienten von einer Therapie, die sich eng an die Leitlinien hält, profitieren. Dies ist ein Beispiel für praxisnahe Ergebnisse aus der Versorgungsforschung. Im Interview erklärt Dr. Schubert, was die Versorgungsforschung sonst noch zu bieten hat.

 

Dr. Ingrid Schubert ist Leiterin der PMV forschungsgruppe an der Universität zu Köln. Einer ihrer Arbeitsschwerpunkte ist die Versorgungsforschung. Die PMV forschungsgruppe arbeitet vorrangig zu gesundheitswissenschaftlichen und epidemiologischen Fragestellungen, insbesondere im Bereich der ambulanten Versorgung. Frau Dr. Schubert hat Lehraufträge an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, der Karl-Franzens-Universität Graz und der Fachhochschule Vorarlberg.

 

Frau Dr. Schubert, welches Ziel hat die Versorgungsforschung?

Wir wollen mit unseren Untersuchungen zunächst den Status Quo der medizinischen Versorgung unter Alltagsbedingungen beschreiben. In einem nächsten Schritt können wir dann Aussagen zur Qualität der Patientenversorgung treffen. Unser besonderes Interesse gilt der Versorgung von chronisch kranken Patienten, deren Behandlung wir mit Hilfe von Daten einer gesetzlichen Krankenkasse über viele Jahre beobachten können. 

Sie haben die Versorgung von Patienten nach einem Herzinfarkt untersucht. Wie gut ist die leitliniengerechte Versorgung in Deutschland?

Sie könnte oftmals besser sein, aber – und das stimmt uns optimistisch – wir sehen auch im Laufe der letzten Jahre, dass die Häufigkeit, mit der in Leitlinien empfohlene Arzneimittel oder auch Maßnahmen zur Therapiekontrolle verordnet werden, deutlich zunimmt.

Werden die Leitlinien zu langsam in der Patientenversorgung umgesetzt?

Man muss immer davon ausgehen, dass auch evidenzbasierte Leitlinienempfehlungen erst nach Jahren in der Breite umgesetzt werden. Hier – und das ist auch ein Thema der Versorgungsforschung – sind gezielte und evaluierte Strategien zur Implementierung der Leitlinien erforderlich. Ein durchaus bewährtes Vorgehen ist es beispielsweise, mit Hilfe von Krankenkassendaten den Ärzten ein Feedback über ihre Verordnungsweise zu geben und darzustellen, in welchem Umfang sie sich im Alltag an Leitlinien halten. Mit dieser Maßnahme kann man die Umsetzung der Leitlinien im klinischen Alltag fördern.

Gibt es Beispiele dafür, was die Versorgungsforschung den Patienten bringt?

In der Versorgungsforschung können wir keine Aussagen über einzelne Patienten, aber über Patientengruppen treffen. Und wir können Trends erkennen. Dies war beispielsweise bei der Verordnung des Arzneistoffes Methylphenidat der Fall. Methylphenidat ist ein Mittel, das bei der Behandlung der hyperkinetischen Störung, also bei Aufmerksamkeitsstörungen und Hyperaktivität, eingesetzt wird. Seit vielen Jahren haben wir und andere Forschungsgruppen darauf hingewiesen, dass der Gebrauch von Methylphenidat enorm zugenommen hat. Ein Hinweis darauf, dass der Wirkstoff möglicherweise zu leichtfertig verordnet wurde. Das hat in jüngster Zeit für die Ärzte zu Auflagen bei der Verordnung geführt.

Profitieren die Patienten auch als Versicherte von der Versorgungsforschung?

Ja. Denn für die Planung von Versorgungsleistungen sind zum Beispiel Schätzungen zur Häufigkeit von bestimmten Erkrankungen in der Bevölkerung von Interesse, etwa von Demenz oder Diabetes mellitus. Denn die Bevölkerung wird immer älter. Deshalb ist es wichtig abzuschätzen, wie viele Versicherte derzeit von einer Krankheit betroffen sind bzw. wie viele in den nächsten Jahrzehnten erkranken werden.
Ein weiteres wichtiges Gebiet der Versorgungsforschung ist die Evaluation von gesundheitspolitischen Maßnahmen oder Interventionen. Auch hier profitieren die Patienten und Versicherten, wenn etwa gezeigt werden kann, ob eine Maßnahme tatsächlich die gewünschten Effekte zeigt. Einige Maßnahmen wie zum Beispiel die Disease-Management-Programme wurden eingeführt, ohne dass Nutzen und Risiken wirklich bekannt waren. Hier ist die Versorgungsforschung gefragt. Ein weiteres aktuelles Themenfeld ist die integrierte Versorgung, die Hausärzte, Fachärzte und Krankenhäuser miteinander vernetzt. Hier wird untersucht, ob Verträge zur integrierten Versorgung, wie sie von vielen Krankenkassen angeboten werden, zu einer besseren Versorgung bei gleichen oder geringeren Kosten führen. Die Ergebnisse sind natürlich auch für die Versicherten von großer Bedeutung.

Ansprechpartnerin:
Dr. Ingrid Schubert
PMV forschungsgruppe
Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie
des Kindes- und Jugendalters
Universität zu Köln
Herderstr. 52-54
50931 Köln
Tel.: 0221 478-6545
Fax: 0221 478-6766
E-Mail: ingrid.schubert@uk-koeln.de