Wenn Meinungen ansteckend sind

Wie erreicht man Millionen, wenn jeder einzelne Mensch anders denkt? André Calero Valdez nutzt mathematische Modelle, um zu zeigen, wie sich Einstellungen in der Gesellschaft verbreiten – und warum sie den Verlauf von Pandemien mitbestimmen.

Portrait von Prof. Dr. André Calero Valdez

Prof. Dr. André Calero Valdez modelliert an der Universität zu Lübeck, wie sich Meinungen digital verbreiten – und welchen Einfluss sie beispielsweise bei Pandemien haben.

Projektträger Jülich

Als Anfang 2020 die ersten Coronafälle in Deutschland bekannt werden und sich viele fragen, wie schnell sich die Krankheit im Land verbreiten wird, sitzt André Calero Valdez im Home Office in Aachen und denkt sich: „Ich kann doch zur Beantwortung dieser Frage etwas beitragen.“ Calero Valdez arbeitet zu dieser Zeit mit seiner Nachwuchsforschungsgruppe an der RWTH Aachen University eigentlich an mathematischen Modellen, die erklären können, wie sich Desinformationen in einer Gesellschaft verbreiten. Doch in diesem Moment erinnert sich Calero Valdez an einen Vortrag, den der erfahrene amerikanische Epidemiologe Joshua Epstein vor einigen Monaten auf einer Tagung zur mathematischen Modellierung gehalten hat. Darin hat Epstein angedeutet, dass sich Meinungen ähnlich verbreiten wie Erkrankungen, als Beispiel nannte er die jährliche Grippewelle.

Analyse von Infektionsgeschehen

Calero Valdez ist jedoch vor allem eine Beobachtung Epsteins im Gedächtnis geblieben: Erkrankungen wie Ebola, die mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Tod führen, sind oft aus epidemiologischer Sicht gar nicht die gefährlichsten – weil sich die Menschen adäquat schützen. Gefährlicher für die Gesamtbevölkerung sind die Krankheiten, die selten tödlich sind, an der aber viele Menschen erkranken – weil die Angst vor Ansteckung kleiner ist. Corona, so befürchtet Calero Valdez 2020, gehört wohl zur zweiten Gruppe, er rechnet daher damit, dass die Pandemie einige Zeit dauern wird. Im Homeoffice fragt er sich, ob nicht auch seine bisherigen Forschungsthemen, „Fake News“ und Meinungsbildung, für die Entwicklung der Pandemie eine Rolle spielen. Er nimmt Kontakt zu anderen Forscherinnen und Forschern auf. Heute sind aus diesem Austausch zwei Verbundprojekte entstanden. InfoXpand untersucht, wie Information, Desinformation und Meinungen das Kontaktverhalten und damit die Ausbreitung und Eindämmung einer Pandemie beeinflussen. Im Rahmen von OptimAgent haben die Forschenden ein Modell entwickelt, das die Auswirkungen verschiedener Schutzmaßnahmen bereits vor ihrer Umsetzung simulieren kann. Man könne, sagt Calero Valdez, diese beiden Projekte durchaus als Synthese seiner bisherigen wissenschaftlichen Arbeit sehen.

Förderung zur Modellierung von Infektionskrankheiten

Das Bundesministerium für Forschung, Technologie und Raumfahrt (BMFTR) unterstützt die Forschungsverbünde InfoXpand und OptimAgent im Rahmen des Modellierungsnetzes für schwere Infektionskrankheiten, kurz MONID. Ziel der Maßnahme ist es, durch die Vernetzung der in Modellierungen tätigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie durch den wissenschaftlichen Austausch und die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit den relevanten Fachdisziplinen eine strukturelle Stärkung der Modellierungskompetenz in Deutschland mit Bezug auf Infektionsgeschehen zu erreichen, um so bei Pandemien künftig gut aufgestellt zu sein. Das BMBF fördert das Netzwerk mit sieben Forschungsverbünden seit 2022 mit mehr als 14 Millionen Euro. Eine weitere Förderrunde mit Erweiterung des Spektrums über Atemwegsinfektionen hinaus ist bereits in Vorbereitung.

Firma oder Forschung?

Eigentlich wollte André Calero Valdez, der als Sohn eines bolivianischen Vaters und einer deutschen Mutter in Aachen aufwächst, entgegen der Erwartungen seiner Eltern nie studieren. Eine Ausbildung in der IT möchte er machen, vielleicht auch Musiker werden. Aber nach dem Zivildienst in der individuellen Schwerbehindertenbetreuung entscheidet sich Calero Valdez doch für ein Studium der Informatik und Psychologie in Aachen, später für ein Aufbaustudium Wirtschaftsinformatik. Nach seinem Abschluss arbeitet Calero Valdez zunächst an einer Gründung, die mit seinem Studium wenig zu tun hat: Mit einem Freund importiert er aus der Türkei innovative biologisch abbaubare Flammschutzmittel. Und damit Calero Valdez ein weiteres sicheres Standbein hat, beginnt er in Aachen mit einem Stipendium eine Promotion in der „eHealth“-Forschungsgruppe bei Frau Professor Martina Ziefle. Die Promotion beschäftigt sich mit der Frage, wie man mit Hilfe digitaler Werkzeuge Patientinnen und Patienten mit Diabetes im Alltag unterstützen kann.

In dieser Zeit entdeckt Calero Valdez seine Liebe für die Forschung. In seiner Promotion möchte er eine innovative Technologie für Patientinnen und Patienten mit Diabetes entwickeln. Oft war es so, dass vor allem ältere Erkrankte ihre Blutzuckerwerte messen, sie aufschreiben, zwei Wochen später zu ihrer Ärztin oder ihrem Arzt gehen und erst dann ein Feedback bekommen, ob sie sich richtig verhalten haben. Calero Valdez möchte diesen Kreislauf verkürzen, seine Idee: Ein digitaler Stift, ähnlich dem Tiptoi-Stift für Bilderbücher, den heute viele Kinder in ihren Zimmern liegen haben. „Wir haben ein digitales Tagebuch entwickelt. Der Stift hat die Werte automatisch digitalisiert und mit dem Handy synchronisiert. Und wenn dann ein Wert in die falsche Richtung gegangen ist, konnten wir den Stift auch sprechen lassen: ‚Achtung, der Wert ist sehr hoch, bitte nochmal überprüfen oder gegebenenfalls Insulin nachdosieren´“, erklärt Calero Valdez.

Was er schnell merkt: Oft ist es gar nicht wichtig, wie Technik genau funktioniert. Sondern, wie sie wahrgenommen wird. Viele der Patientinnen und Patienten loben die Freundlichkeit des Stifts. Bei der Konzeption war das für Calero Valdez nur ein Nebeneffekt, jetzt versteht er, dass das eine Grundbedingung ist: Menschen müssen die Technik, mit der sie arbeiten, akzeptieren.

Beeinflussende Algorithmen

Calero Valdez schließt seine Promotion 2013 mit Auszeichnung ab. Er bleibt an der Uni, arbeitet als Postdoc in einem Exzellenzcluster. Dann entdeckt er eine Ausschreibung des Landes Nordrhein-Westfalen zum Thema Gefährdung der Demokratie durch Filterblasen und Social Bots. Calero Valdez gewinnt eine eigene Nachwuchsforschungsgruppe, die sich in Aachen ansiedelt. Seine Gruppe versucht mit agentenbasierter Modellierung zu verstehen, wie Meinungsänderung durch Algorithmen beeinflusst wird. „Die Idee bei der agentenbasierten Modellierung ist, dass wir versuchen, das komplexe Verhalten von Menschen auf einfache Regeln runterzubrechen und virtuell nachzubauen. Das heißt, wir simulieren virtuelle Menschen, so genannte Agenten, die Handlungen ausführen und miteinander in einer virtuellen Umgebung interagieren können.“

Das Interessante, sagt Calero Valdez, sei, dass aus einfachen und überschaubaren Verhaltensregeln auf einer größeren Ebene unerwartet komplexe Phänomene werden können. „Schon eine einfache Vorliebe, sich lieber mit Gleichgesinnten auszutauschen, kann auf lange Sicht zur Polarisierung führen“, sagt er. Denn wenn der Austausch mit anderen auch die eigene Meinung beeinflusst, entstehen schnell Meinungsblasen, in denen kaum noch andere Perspektiven vorkommen. Ein großer Vorteil dieser Modelle ist laut Calero Valdez ihre Flexibilität: Die simulierten Agenten lassen sich individuell anpassen – etwa in Bezug auf Medienkonsum oder Reaktionen auf Vorhersagen. Ein Beispiel dafür lieferte die Corona-Pandemie. Viele Menschen reduzierten ihre Kontakte frühzeitig, weil Modelle vor einer drohenden Infektionswelle warnten. Die Folge: Die Welle blieb aus – und die Modelle galten im Nachhinein als unzutreffend. „Im Gegensatz zur Wettervorhersage reagieren Menschen auf Prognosen. Das muss in den Modellen besser berücksichtigt werden“, so Valdez.

Soziale Medien besonders herausfordernd

Modellierung, sagt Calero Valdez, ist notwendig, um in der Zukunft große soziale Phänomene zu verstehen. Auch – und vor allem – die sozialen Medien. „Ich glaube, eines der größten Probleme der digitalen Gesellschaft ist, dass soziale Medien so unreguliert sind. Dabei haben sie eine enorme Kraft und beeinflussen unsere Normen und Werte und verändern unsere Demokratie“, sagt Calero Valdez. Bei der Modellierung von Phänomenen in den sozialen Medien entstehen aber völlig neue Herausforderungen. „Wenn ich 80 Millionen Menschen modellieren will, dann funktioniert das bei einer Krankheitsausbereitung gut, weil für Infektionen Menschen sich in echt begegnen müssen. Man begegnet nicht 100.000 Menschen an einem Tag. Wenn es aber um die Ausbreitung von Informationen geht, hat man diese Größenordnungen. Wenn ich irgendwas auf Twitter poste und 10 000 Leute damit interagieren, dann sehen wahrscheinlich 100 000 Menschen diesen Inhalt.“ Für jede Nutzerin, jeden Nutzer mehrmals täglich hunderttausende Interaktionen in agentenbasierten Modellen zu simulieren, sagt Calero Valdez, bringe selbst moderne Rechner an ihre Grenzen.

2022 wird André Calero Valdez mit 40 Jahren als Professor für „Human-Computer Interaction und Usable Safety Engineering“ an die Universität Lübeck berufen. Er verlässt Aachen, zieht mit seiner Familie in den Norden. Und muss sich als Professor an Neues gewöhnen. „Womit ich nicht gerechnet habe, ist, wie anders die Aufgaben als Professor auf einmal sind. Dabei, hoffe ich, dass ich mich gar nicht zu sehr verändere“, sagt er und lacht. „Und mir fällt es immer noch schwer, nicht selbst überall mitzuarbeiten – nicht selbst mitzurechnen.“ Mit OptimAgent forscht Calero Valdez in Lübeck im Moment an einem Modell, das sogar mit 80 Millionen Agenten rechnen kann – nicht nur, aber vor allem dafür, dass wir gut gerüstet sind für die nächste Pandemie.

Gruppenfoto der Teilnehmenden der Internationale Summer School

Das infoXpand Projekt organisierte im Jahr 2023 eine Internationale Summer School zum Thema Infodemien und Pandemien mit 50 Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus der ganzen Welt.

Calero Valdez/Universität zu Lübeck