07.10.2021

Aktuelle Meldung

„Wir brauchen konkrete Entscheidungshilfen für die Sedierung in der Palliativmedizin“

Der Palliativforscher Prof. Dr. Christoph Ostgathe will Palliativteams bei der schwierigen Entscheidung helfen, wann und wie das Leiden von Sterbenden und Schwerkranken mit Hilfe von Beruhigungsmitteln gelindert werden kann.

Prof. Christoph Ostgathe im Gespräch mit einem Patienten und einer Pflegerin

Prof. Christoph Ostgathe im Gespräch mit einem Patienten und einer Pflegerin

Michael Rabenstein/Uni-Klinikum Erlangen

Herr Professor Ostgathe, was genau geschieht bei der Sedierung in der Palliativmedizin?

Bei Sterbenden und Schwerkranken gibt es immer wieder Situationen, wo das Leiden unerträglich ist, etwa weil sie große Schmerzen oder Angst haben und gleichzeitig ganz wach sind. Als letztes medizinisches Mittel greifen wir dann auf die Sedierung zurück, das heißt konkret: Wir geben ein Beruhigungsmittel, damit die Betroffenen zur Ruhe kommen und ihre Situation nicht mehr so stark wahrnehmen. Damit verbunden sind natürlich nicht nur medizinische Aspekte, sondern auch ganz viele ethische und juristische Fragen, etwa ob dieses Vorgehen das Sterben beschleunigt, ob die Betroffenen damit einverstanden sind oder auch, was die Angehörigen empfinden.

Wie entscheiden die betreuenden Ärztinnen und Ärzte in dieser Situation?

Wir haben Palliativmedizinerinnen und -mediziner gefragt, wie häufig sie diese Form der Sedierung anwenden, und die Antworten gingen von Null bis 80 Prozent. Obwohl es Leitlinien gibt, besteht in der Ärzteschaft also eine große Unsicherheit. Deswegen haben wir in unserem ersten Projekt zur Palliativen Sedierung SedPall insgesamt 60 fein aufgeschlüsselte Handlungsempfehlungen zu all den unterschiedlichen Aspekten erarbeitet und diese im Frühjahr 2021 herausgegeben

Prof. Dr. med. Christoph Ostgathe

Prof. Dr. med. Christoph Ostgathe ist Leiter der Palliativmedizinischen Abteilung des Universitätsklinikums Erlangen und Präsident der European Association for Palliative Care (EAPC)

Michael Rabenstein/Uni-Klinikum Erlangen

Wie werden die Handlungsempfehlungen in der Praxis aufgenommen?

Wir haben viel positives Feedback erhalten, aber es wurde auch zurückgemeldet, dass Unterstützung bei der Entscheidung und konkreten Umsetzung in der klinischen Praxis gebraucht wird. Dazu gehören gezielt entwickelte Werkzeuge, die sogenannten Clinical Decision Support Tools, aber auch praxistaugliche Dokumentations- und Einwilligungsvorlagen, Aufklärungsbögen etwa zu juristischen Fragen oder auch Schulungsmaterial für das Team vor Ort. Genau das entwickeln wir jetzt im gerade gestarteten Nachfolgeprojekt iSedPall.

Binden Sie auch Betroffene und Angehörige in die Entwicklung der Materialien ein?

Auf jeden Fall und von Anfang an. Partizipation sollte mehr sein, als Bürger nur anzuhören. Vielmehr sollte man Betroffene und insbesondere An- und Zugehörige schon in der Entwicklungsphase eines Projektes gleichberechtigt beteiligen.  Auch im weiteren Verlauf sollten sie mitbestimmen können und auch Entscheidungsmacht bekommen. Ich bin dem BMBF sehr dankbar, dass dies inzwischen in allen Ausschreibungen gefordert wird. Wir Fachleute in der Medizin und insbesondere in der Forschung müssen allerdings noch viel lernen. Ganz wichtig ist dabei, dass wir uns sprachlich verständlich ausdrücken und damit sicherstellen, dass sich die Vertreterinnen und Vertreter von Patienten oder Angehörigen nicht überfordert fühlen, sondern vielmehr ihre Überlegungen und Anliegen einbringen können. Hierzu zwei Beispiele aus unserer Arbeit: Beim Monitoring der Sedierung schlugen die Vertreterinnen und Vertreter von Betroffenen vor, auch die Kommentare der Angehörigen zu dokumentieren. Beim Aufklärungsbogen werden sie dafür sorgen, dass die Inhalte auch für Laien verständlich sind. Wir haben hier noch keine gelebten Strukturen, aber ich freue mich auf den Lernprozess, mit dem wir letztlich die nächsten Stufe der Partizipation erklimmen.

In diesen Tagen wird der Welthospiztag begangen. Haben Sie dazu eine Botschaft?

Natürlich sollte das Ziel sein, dass jeder Mensch Zugang zu palliativmedizinischer Unterstützung bekommt. Aber es geht um mehr als die spezialisierte Versorgung. Ich würde mir wünschen, dass Palliativarbeit noch stärker in die Gesellschaft hineinwirken kann, denn jeder und jede wird in diese Lebensphase kommen. Sie kann sehr positiv und glücklich verlaufen, aber wenn es nicht gelingt – und dann kommt ja auch die Sedierung ins Spiel – ist es ein traumatisches Erlebnis, Angehörige können danach lange traurig und krank sein. Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, dass dieser Abschnitt nicht zu einer unerträglichen Erinnerung wird. Mitfühlende Gemeinden und Begleitung im Alltag sollten wieder stärker gelebt werden.

Am 9. Oktober ist Welthospiztag

„Keinen zurücklassen – Gerechtigkeit beim Zugang zu palliativer Versorgung“ – unter diesem Motto wird der diesjährige Welthospiztag begangen. Initiator ist die Worldwide Hospice and Palliative Care Alliance (WHPCA) als Netzwerk von über 200 einschlägigen nationalen Organisationen und unterstützt durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO). Ziel ist, die Aufmerksamkeit für hospizliche und palliative Belange auf internationaler Ebene zu erhöhen. In Deutschland gibt es zahlreiche Aktivitäten bis zum 14. Oktober, an dem der Deutsche Hospiz- und PalliativVerband e. V. den Deutschen Hospiztag unter dem Motto: „Leben: Bis zum Schluss“ veranstaltet und vielfältiges Informationsmaterial zur Verfügung stellt.