November 2020

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Aktive Gesundheitsförderung im Alter

Die Langzeitstudie LUCAS zeigt, wie Präventionsforscherinnen und ­-forscher über 20 Jahre hinweg einen einzigartigen Daten­ und Erfahrungsschatz aufgebaut haben. Und wie sie ihn – bis heute – für immer neue Transferziele erfolgreich nutzen.

Computer-Bildschirm zeichnet Gangmuster auf, im Hintergrund Patientin mit Therapeutin

LUCAS -Assessment in der Mobilitätsambulanz

Ronald Frommann

Prävention ist oft die „beste Medizin“: Sie kann vielen Erkrankungen ohne Nebenwirkungen vorbeugen – und kostet uns nicht mehr als ein gesundheitsbewusstes Verhalten. So klar und überzeugend dieses „Rezept“ klingt, so spezifisch sind die Herausforderungen für den Transfer präventiver Programme. Während beispielweise die Einführung diagnostischer Methoden mit dem Aufbau der Technik in den Laboren und der Transfer neuer Wirkstoffe durch die Verschreibung in den Arztpraxen praktisch vollzogen sind, steht der Transfer präventiver Maßnahmen vor einer ganz besonderen Herausforderung. Hier gilt es, die Gesundheitskompetenz und das Gesundheitsbewusstsein der Menschen so zu entwickeln, dass sie gesundheitsfördernde Verhaltensweisen dauerhaft im Alltag beherzigen. „Das gelingt nur, wenn wir eng mit der Zielgruppe zusammenarbeiten, wenn wir ihre Wünsche und die Gegebenheiten ihrer Lebenswelt bei der Entwicklung unserer Angebote von Anfang an im Blick haben“, erklärt Dr. Ulrike Dapp, Forschungskoordinatorin am Zentrum für Geriatrie und Gerontologie des Albertinen Hauses in Hamburg, einer wissenschaftlichen Einrichtung an der Universität Hamburg. Dass das gerade bei älteren Menschen gut funktioniert, belegten die Hamburger Forscherinnen und Forscher mit einem Langzeitprojekt, der Longitudinalen Urbanen Cohorten-Altersstudie (LUCAS).

Seit rund 20 Jahren studieren sie, welche Faktoren die Gesundheit der über 60-jährigen Seniorinnen und Senioren fördern. LUCAS brachte dabei einen einzigartigen Datenschatz für die Alters- und Präventionsforschung hervor. Dieser Fundus schließt nicht nur große Erkenntnislücken zum präventiven Potenzial betagter Menschen. LUCAS bahnte auch dem Programm „Aktive Gesundheitsförderung im Alter“ den Weg in die Regelversorgung. „Unsere Forschung hat zu einem wichtigen Umdenken in der Gesellschaft beigetragen: In der Vorstellung der Menschen ist das Altern nicht mehr gleichbedeutend mit körperlichem Zerfall oder schwindender Selbstständigkeit“, so Dapp. Der Transfer dieser Erkenntnis in die Gesellschaft macht Seniorinnen und Senioren heute handlungsfähiger denn je gegen die einst oft mit Schicksalsdemut hingenommene Aussicht auf Hilfsbedürftigkeit im Alter. Dieses Umdenken ist ein wichtiger Wegbereiter für die Verankerung der aktiven Gesundheitsförderung in der Lebenswelt älterer Menschen.

Für solche Erfolge braucht die Präventionsforschung einen langen Atem – schnelle Innovationen liegen nicht in ihrer Natur. Technische Fortschritte oder unerwartete Entdeckungen aus der Grundlagenforschung – zum Beispiel Hochdurchsatztechnologien oder die Genschere – können den Erkenntnisgewinn in vielen Forschungsbereichen beschleunigen. Präventionsforscherinnen und -forscher aber sind auf langjährige Studien angewiesen, um valide Erkenntnisse zu gewinnen. Dabei begleiten sie die Teilnehmerinnen und Teilnehmer oft über einen ganzen Lebensabschnitt – wie in der LUCAS-Studie. Im Folgenden skizzieren wir die Förderphasen dieser Langzeitstudie – und die Verwertung ihrer Ergebnisse. Die chronologische Darstellung zeigt dabei beispielhaft, wie Transfer in der Prävention funktioniert und welche Erfolgsfaktoren dabei eine wichtige Rolle spielen.

PRO-AGE (1999−2002)
Paradigmenwechsel: Forschen für ein gesundes Altern

Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts waren Berichte über die Gesundheit älterer Menschen geprägt von „Krankheitsdaten“ betagter Patientinnen und Patienten aus der klinischen Versorgung und Sterbestatistiken. „Gesundes Altern“ war bis 1999 praktisch kein Thema für die Forschung. Doch dann läutete das von der Europäischen Union (EU) geförderte Projekt PRO-AGE einen tiefgreifenden Wandel ein: Medizinerinnen und Mediziner begannen, die Gesundheit älterer Menschen systematisch zu „messen“. Auf der Grundlage der gewonnenen Daten wollten sie positive Faktoren für ein gesundes Altern identifizieren – und damit konkrete Ansatzpunkte für Verhaltensänderungen, die Krankheit und Pflegebedürftigkeit im Alter vorbeugen.

Synergien von Projekten nutzen

Den Kontakt zu mehreren Tausend Hamburger Seniorinnen und Senioren und ihren Hausarztpraxen wollten wir über die dreijährige Laufzeit von PRO-AGE hinaus nutzen. Wir sahen in dieser gut definierten Studienpopulation die ideale Basis für eine einzigartige Langzeitstudie, mit der wir positive Einflussfaktoren für ein gesundes Altern systematisch erforschen könnten.

Ulrike Dapp

An diesem EU-Projekt beteiligten sich auch die Forscherinnen und Forscher vom Zentrum für Geriatrie und Gerontologie des Albertinen Hauses. Über den Kontakt zu rund 20 Hausarztpraxen der Hansestadt gewannen sie mehr als 3.300 selbstständig lebende Personen für die Teilnahme an PRO-AGE. Zu Studienbeginn hatten sie ein Mindestalter von 60 Jahren und weder kognitive Einschränkungen noch eine Pflegestufe. Informationen zu ihrem Gesundheitszustand, zu Vorerkrankungen, Alter, Geschlecht, Bildung und Beruf erfassten die Forschenden per Fragebogen – als Datengrundlage für weitere epidemiologische Vergleiche und Analysen.

Die enge Rückkopplung mit den Hausärzten ist aus Sicht der Forschenden ein entscheidender Erfolgsfaktor für den Transfer – die Praxen, über die die älteren Menschen für PRO-AGE rekrutiert wurden, nahmen an einem präventiv-geriatrischen Qualitätszirkel teil und wünschten dessen Fortsetzung auch nach dem Abschluss des PRO-AGE-Projekts. Inzwischen ist die Teilnahme an einem solchen Qualitätszirkel bei der Ärztekammer Hamburg als Weiterbildungsmaßnahme für Hausärzte zertifiziert.

Den nächsten Schritt früh vorbereiten

Noch während der Laufzeit von PRO-AGE entwarfen die Hamburger Forscherinnen und Forscher das Konzept für ein Präventionsprogramm zur Gesundheitsförderung im Alter. Durch die zeitnahe Sicherung der Anschlussförderung durch nationale Förderer vermieden sie eine „Förderlücke“, sodass der wertvolle Kontakt zur PRO-AGE-Studiengruppe und den Arztpraxen kontinuierlich fortgesetzt werden konnte.

„Aktive Gesundheitsförderung im Alter“ (2001−2005)
Ein Präventionsprogramm für Hamburg

Gefördert durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) und mehrere Stiftungen entwickelten Dapp und ihr Team das Präventionsprogramm „Aktive Gesundheitsförderung im Alter“ für die Metropolregion Hamburg, setzten es um und untersuchten die Wirksamkeit der Maßnahmen mit LUCAS in einer randomisiert-kontrollierten Studie.

Die Personen der Interventionsgruppe wurden zu einer halbtägigen Kleingruppenveranstaltung in das Albertinen Haus eingeladen. Fachkräfte aus den Bereichen Altersmedizin, Ernährungswissenschaft, Physiotherapie und Sozialpädagogik berieten die Seniorinnen und Senioren hinsichtlich gesundheitsfördernder Verhaltensweisen auf Basis von Kurzfragebögen zu ihrem aktuellen Bewegungs- und Ernährungsverhalten (Screenings). Fehlannahmen der Teilnehmenden hierzu, wie etwa „Eier sind ungesund“ oder „Krafttraining an Geräten ist schädlich“, wurden von den Experten aufgegriffen und in der Kleingruppe diskutiert und korrigiert. Abschließend erhielten die Teilnehmenden einen individuellen Empfehlungsbrief mit passgenauen Empfehlungen auf wissenschaftlicher Grundlage. Der sollte sie dazu motivieren, beispielsweise ein früheres Hobby wieder aufzunehmen: so etwa Tanzen zur ganzheitlichen Förderung von Gleichgewicht, Ausdauer und sozialer Aktivität oder ein neues Bewegungstraining wie Tai-Chi zur Förderung von Kraft, Koordination und Gleichgewicht bei festgestellter Sturzgefahr. Auch konnte den Teilnehmenden empfohlen werden, spezielle Kochkurse zu proteinreicher Ernährung bei festgestelltem Muskelmasseverlust (Sarkopenie) zu belegen und soziale Veranstaltungen in ihrem Wohnumfeld zu besuchen und sich hier gegebenenfalls auch ehrenamtlich zu engagieren. Um die Umsetzung dieser Empfehlungen zu fördern, lieferten Dapp und ihr Team die passenden Anlaufstellen und Kontaktdaten von Ansprechpersonen gleich mit. Hierfür wurden im Vorwege und auf Basis der individuellen Gegebenheiten entsprechende Anbieter in einer Netzwerk-Datenbank recherchiert.

Akteure vernetzen

Von Anfang an setzten wir mit der aktiven Gesundheitsförderung im Alter und der LUCAS-Studie auf ein starkes Netzwerk: Es umfasst die interdisziplinären Teams am Albertinen Haus, die Hamburger Hausarztpraxen und Gesundheitsbehörde sowie universitäre und außeruniversitäre Organisationen, die viel mit älteren Menschen zu tun haben – etwa Sportverbände, Bildungseinrichtungen oder Seniorenvereine.

Ulrike Dapp

Ein halbes Jahr nach der ersten Informationsveranstaltung wurden die Seniorinnen und Senioren erneut nach ihrer Lebensweise befragt. Stellte sich dabei heraus, dass sie die Empfehlungen nicht wie erhofft umsetzten, nutzten die Forschenden die aus den Gesprächen gewonnenen Informationen, um das Programm didaktisch zu optimieren. Das Ergebnis: Zum einen nutzten die Personen der Interventionsgruppe häufiger Maßnahmen zur Gesundheitsvorsorge – von der Grippeschutzimpfung bis zum Hörtest. Zum Zweiten zeigten sich schon nach einem Jahr deutliche Verbesserungen im Gesundheitsverhalten, beispielsweise beim Konsum von Obst und Gemüse oder in puncto körperlicher Aktivität. Über die Fragebögen und persönlichen Begegnungen hinaus pflegt das Studiensekretariat den direkten Kontakt zu den Teilnehmenden auch über eine telefonische Hotline – seit nunmehr fast 20 Jahren.

Partizipation ermöglichen

Durch den intensiven Austausch mit unserer Zielgruppe erfahren wir, welche Fragen und Wünsche ältere Menschen aktuell bewegen. Die Teilnehmenden sollen auch eigene Vorschläge zur Ausrichtung unserer Forschungsarbeit einbringen und können so die Ausrichtung der Studie mitgestalten. Diese Zusammenarbeit ist für die LUCAS-Seniorinnen und -Senioren sowie für uns sehr motivierend – zugleich ist sie ein zentraler Erfolgsfaktor für den Transfer unserer Angebote in den Alltag der Menschen.

Ulrike Dapp

Prozesse beschleunigen, Qualität sichern

Die Entwicklung von Präventionsmaßnahmen bis zur Transfer-Reife ist ein fortwährender Optimierungszyklus. Dass die Forschenden am Albertinen Haus mit der LUCAS-Studie ihr eigenes Programm zur Gesundheitsförderung evaluieren, ist eine ungewöhnliche Konstellation. Sie hat jedoch den Vorteil, dass Studienergebnisse sehr schnell in die Weiterentwicklung der Maßnahme einfließen können. Das beschleunigt den Optimierungsprozess. In einem solchen Setting ist die Zusammenarbeit mit externen Instituten ein entscheidender qualitätssichernder Faktor hinsichtlich des späteren Transfers. Bei der Datenerhebung und -analyse arbeiten die Forscherinnen und Forscher am Albertinen Haus daher seit dem Start der Studie eng zusammen mit dem Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Bern sowie den Instituten für Biostatistik und Epidemiologie der Universitäten München (LMU) und Hamburg (UKE).

 LUCAS I−III (2007−2016)
Der Roll-out in Deutschland beginnt

LUCAS­-Fragebogen zum Ausfüllen mit der Hand

LUCAS-­Fragebogen

Gabi Stoltenberg, Albertinen Haus

In folgenden Förderphasen unterstützte das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) die weitere Entwicklung der LUCAS-Studie. Dabei hatten die Forscherinnen und Forscher als zentralen Parameter die sogenannte funktionale Kompetenz der Studienteilnehmenden im Blick. Dafür entwickelten und validierten sie den LUCAS-Funktionsindex. Er dient als Messgröße für die funktionalen Reserven älterer Menschen und deren Risiko für drohende alltagsrelevante Funktionsverluste, etwa in Form von Mobilitätseinschränkungen als Vorboten des Verlustes von Selbstständigkeit und Übergang in Pflegebedürftigkeit. Der Funktionsindex basiert auf Selbstauskünften der Studienteilnehmenden. Per Fragebogen informieren sie regelmäßig über ihren Gesundheitszustand, ihre Alltagsaktivitäten und ihre Lebensqualität. Doch können solche Selbstauskünfte eine valide Datengrundlage liefern? Das prüften die Forschenden mit einem ganzheitlichen gerontologisch-geriatrischen Assessment. Parallel zum Einsatz des Fragebogens bestimmten sie mit vielfältigen Tests den körperlichen, kognitiven, emotionalen und sozialen Status der Teilnehmenden. Diese Validierung erfolgte über viele Jahre – von 2007 bis 2013. Dabei zeigte sich, dass die aus den einfachen Fragebögen und aus dem aufwendigen Assessment gewonnenen Ergebnisse übereinstimmen.

Methoden validieren

Mit der Validierung unseres ‚Messinstrumentes‘, dem LUCAS-Funktionsindex, wiesen wir nach, dass die LUCAS-Studie die Gesundheit und das Gesundheitsverhalten der Menschen viel präziser erfasst als die bis dato übliche Betrachtung medizinischer Routinedaten, etwa die Anzahl an Diagnosen, und des kalendarischen Alters.

Ulrike Dapp

Über die Erfassung von Gesundheit, Mortalität und dem Eintritt von Pflegebedürftigkeiten konnten die Forschenden belegen, dass das Programm „Aktive Gesundheitsförderung im Alter“ die Lebenszeit und die Lebensqualität – gemessen in behinderungsfreiem Überleben – der Teilnehmenden deutlich verbessert. Von den Seniorinnen und Senioren, die bei guter Gesundheit in die Studie eintraten, aber nicht an dem Präventionsprogramm teilnahmen, verstarb im Beobachtungszeitraum von fast 14 Jahren jede dritte Person. Bei den an der aktiven Gesundheitsförderung Teilnehmenden ist diese Rate deutlich niedriger: Hier verstarb bis heute nur jede fünfte Person. Mehr als 70 Prozent von ihnen brauchte bis zum Lebensende keine fremde Hilfe im Alltag. Bei den Nicht-Teilnehmenden waren dies nur rund 50 Prozent.

Die Ergebnisse der LUCAS-Studie waren so überzeugend, dass das Programm im Jahr 2005 mit dem Deutschen Präventionspreis des Bundesgesundheitsministeriums ausgezeichnet und in die Präventionsdatenbanken der gesetzlichen Krankenkassen übernommen wurde. Auch andere geriatrische Einrichtungen zeigten Interesse daran, die Präventionskurse des Hamburger Modells anzubieten. Beispielsweise wurden im Rahmen des Programms zur Integrierten Versorgung „Gesundes Kinzigtal“ im Jahr 2007 vier Gesundheitsberater-Expertenteams an vier geriatrischen Standorten im Schwarzwald geschult und zertifiziert, um das Gesundheitsförderungsprogramm dort anzubieten.

Erfolge weiterentwickeln

Mit jeder Förderperiode wird die LUCAS-Studie wertvoller. Je länger sie läuft, desto größer der Daten- und Erfahrungsschatz, auf dessen Basis neue Transferziele verfolgt werden können. Dabei setzen die Forschenden auf das Potenzial bestehender „LUCAS-Produkte“. So sollen die folgenden Anschlussprojekte den LUCAS-Funktionsindex in der europäischen Präventionsforschung implementieren und den LUCAS-Funktionsindex als Screening-Instrument in eine Entscheidungshilfe für Hausarztpraxen und Apotheken verwandeln. Mit seiner Hilfe können sie Patienten und Kunden mit guter funktionaler Gesundheit die Teilnahme an Präventionsprogrammen gezielt empfehlen oder bei gemäß Index beginnenden Funktionseinschränkungen bereits sehr frühzeitig eine geriatrische Abklärung anraten.

Verwertungsmöglichkeiten frühzeitig prüfen und vorbereiten

Die Aufnahme des Programms ,Aktive Gesundheitsförderung im Alter‘ in die Präventionsdatenbanken der Krankenkassen und die Zertifizierung anderer Einrichtungen zählten schon beim Start dieser Projektphase zu den Zielen unseres Verwertungsplans. Den gesetzlichen Rahmen dieses Transfers hatten wir also schon bei der Planung der Forschungsarbeiten mit dem bereits im Jahr 2000 vorhandenen Präventionsparagrafen § 20 SGB V im Blick, der im Jahr 2015 zum Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention (PrävG) ausgebaut wurde.

Ulrike Dapp

LUCAS IV MINDMAP (2016−2019)
Forschungsdaten europaweit nutzen

Mit dieser Förderphase unterstützen Daten und Ergebnisse der LUCAS-Studie die Präventionsforschung nun auch auf internationaler Ebene. So brachten die Hamburger Forscherinnen und Forscher den LUCAS-Funktionsindex in das MINDMAP-Konsortium ein. Es vereint neun europäische Studien zur Alters- und Präventionsforschung und wurde vom europäischen Forschungsprogramm HORIZON 2020 gefördert. Gemeinsam analysieren die MINDMAP-Partner die umfangreichen Datenbestände. Ziel ist es, aus den zusammengeführten Informationen fundierte Empfehlungen für Politik und Gesellschaft abzuleiten, um der Hilfs- und Pflegebedürftigkeit älterer Menschen künftig besser vorzubeugen.

Daten teilen

Das Teilen von Forschungsdaten – stets unter der Berücksichtigung des Datenschutzes – ermöglicht es der Wissenschaftsgemeinschaft, Forschungsergebnisse über die Grenzen von Institutionen und Ländern hinweg zu nutzen, besser auf Reproduzierbarkeit zu prüfen und den Transfer zu beschleunigen. Zudem bietet das Teilen von Forschungsdaten in einem multidisziplinär zusammengesetzten Forschungsverbund die Möglichkeit, die Ergebnisse mit unterschiedlichen Sichtweisen zu interpretieren. Der Transfer geriatrischer Expertise ist hier besonders wertvoll. 

Ulrike Dapp
Rollertraining mit LUCAS-Seniorinnen und Senioren

Rollertraining mit LUCAS-­Seniorinnen und ­Senioren

Gabi Stoltenberg, Albertinen Haus

LUCAS V AGIL (2020−2022)
Transfer in Arztpraxen und Apotheken

Bisher war der LUCAS-Funktionsindex ein reines Instrument der Wissenschaft. Er half den Forschenden, die funktionalen Reserven älterer Menschen zu erfassen, die Wirkung ihrer Präventionsmaßnahmen zu messen und Interventionen zu optimieren. In der aktuellen Förderphase des LUCAS-Vorhabens wird dieser Funktionsindex aus dem zugrunde liegenden LUCAS-Fragebogen adaptiert für den breiten Einsatz in Arztpraxen und Apotheken. Hier sollen ältere Menschen künftig die zwölf alltagsnahen Fragen eigenständig im Wartezimmer beantworten können – etwa wie oft sie mit dem Rad fahren oder ob sie ein Ehrenamt ausüben. Auf dieser Basis kann dann beispielweise eine Hausärztin den Gesundheitszustand ihrer Patientinnen und Patienten verschiedenen Kategorien zuordnen und entscheiden, wem sie die Teilnahme an gesundheitsfördernden Angeboten empfiehlt (robust), wer eine medizinische Abklärung noch präklinischer Symptome braucht (vorgebrechlich) oder ob ein über den LUCAS-Funktionsindex erkannter Hochrisikopatient eine geriatrische Komplexbehandlung erhalten sollte (gebrechlich), um einer Pflegebedürftigkeit gezielt vorzubeugen.

„Die Entwicklung und vielseitige Nutzung des Funktionsindex steht beispielhaft für die enge Verzahnung von Theorie und Praxis in der LUCAS-Studie. Unsere Transfer-Erfolge basieren zu einem großen Teil auf der Umsetzung der Humboldt’schen Trias von Forschung, Lehre und Praxis (Versorgung). Dieses Konzept trägt auch dazu bei, Forschungs- und Praxispartner von der Relevanz der Unterscheidung älterer Menschen nach ihrer funktionalen Kompetenz (im Unterschied zum kalendarischen Alter) sowie Förderorganisationen vom Wert des Langzeitprojekts zu überzeugen. Und es erzeugt eine sehr enge Verbindung mit unserer Zielgruppe, aus der wir eine große Motivation schöpfen“, bilanziert Ulrike Dapp.

Transfer in die Praxis

Im Folgenden sind die einzelnen Transferschritte auf dem Weg von der ersten Idee zu dem Präventionsprogramm chronologisch gelistet. Wenn Sie auf einen Zeitraum klicken, öffnet sich der dazugehörige Abschnitt.

LUCAS I−III (2007−2016)

2005 Die ersten Krankenkassen nehmen die „Aktive Gesundheitsförderung im Alter“ in ihre Präventionsdatenbanken auf und machen sie dadurch zum Bestandteil der Regelversorgung. Inzwischen erstatten alle gesetzlichen Krankenkassen die Kosten für die Teilnahme an den Maßnahmen – zumindest teilweise gemäß der gesetzlichen Vorgaben (§20 SGB V).

2005 Nach einer Zertifizierung durch das Albertinen Haus können Geriatrische Zentren und Einrichtungen die Hamburger Präventionskurse auch an ihren Standorten anbieten. Bislang nahmen an der dreiwöchigen Fortbildung deutschlandweit mehr als 20 Einrichtungen teil. Die Zertifizierung ist die Voraussetzung für die Kostenübernahme durch die Krankenkassen.

2010 Das Landespräventionsprogramm „Pakt für Prävention – Gesund alt werden in Hamburg!“ setzt unter anderem die Ergebnisse aus der LUCAS-Studie in der Praxis um. Studienergebnisse zu Mobilität und Sturzprävention im urbanen Aktionsraum sowie zu einer gesundheitsfördernden Ernährung fließen in die Gesundheitsberichte zur Situation älterer Menschen in der Hansestadt ein. Den gelungenen Transfer von Forschungsergebnissen in das kommunale Handeln belegen zudem zwei praktische Verwertungsprodukte für Seniorinnen und Senioren sowie Professionelle, die mit älteren Menschen arbeiten: Das Manual „Sicher gehen – weiter sehen“ mit einem Selbsttest zur Erkennung des eigenen Sturzrisikos und Bausteinen für mehr Gangsicherheit und Mobilität und das Manual „Essen mit Genuss – Schwung für das Alter“ mit einem Selbsttest zur Erkennung von Fehl- und Mangelernährung und proteinreichen Rezepten zum Muskelmasseerhalt.

2017 Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA), das oberste Beschlussgremium der gemeinsamen Selbstverwaltung im deutschen Gesundheitswesen, nutzt den LUCAS-Funktionsindex im Rahmen des Förderprojekts NetzWerk GesundAktiv (NWGA). Das Netzwerk in Hamburg-Elmsbüttel richtet sich an ältere Versicherte der beteiligten Kassen, die in absehbarer Zeit hilfs- und pflegebedürftig werden könnten; der Funktionsindex hilft, geeignete Studienteilnehmende zu finden, die richtige Zielgruppe für Interventionsangebote zu definieren und gezielt anzusprechen.

LUCAS IV MINDMAP (2016−2019)

2016 Daten aus der LUCAS-Studie und der LUCAS-Funktionsindex fließen in ein europäisches Forschungsprojekt ein, das MINDMAP-Konsortium. Die dort gewonnenen Erkenntnisse werden fortlaufend im Internet und in Fachzeitschriften zur Public-Health-Forschung veröffentlicht.

LUCAS V AGIL (2020−2022)

Ausblick

Dank der LUCAS-Studie wurden wichtige Einblicke in die „Blackbox“ des normalen Alterns gewonnen – aus ihr lassen sich zielgruppenspezifische Interventionen ableiten, die dazu beitragen, die Selbstständigkeit älterer Menschen zu erhalten und Pflegebedürftigkeit hinauszuzögern. Mithilfe des LUCAS-Fragebogens kann der Bedarf älterer Menschen für eine aktive Gesundheitsförderung in Hausarztpraxen und Apotheken in ganz Deutschland gepüft werden, um dem Schwinden funktionaler Reserven gezielt und systematisch vorbeugen zu können. Diese Informationen lassen sich für zukünftige passgenaue Präventionsangebote und die interdisziplinäre Zusammenarbeit in geriatrischen Netzwerken nutzen.