Oktober 2023

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Alzheimer: Gefäße als Ansatzpunkt der Therapie

Das Protein „Medin“ trägt zur Schädigung der Blutgefäße im Gehirn von Menschen mit Alzheimer bei. Dieser Befund aus Forschungsarbeiten des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) könnte den Weg für neue Therapiemaßnahmen bereiten.

Diese Aufnahme zeigt ein Blutgefäß mit Ablagerungen von Amyloid­β und Medin (farblich markiert in Lila und Grün). Das Bild wurde am Computer eingefärbt.

Diese Aufnahme zeigt ein Blutgefäß mit Ablagerungen von Amyloid­β und Medin (farblich markiert in Lila und Grün). Das Bild wurde am Computer eingefärbt.

DZNE/Neher Lab

Medin gehört zu den „Amyloiden“. Von dieser Proteinfamilie ist das Amyloid-β intensiv erforscht. Es wird vom menschlichen Körper natürlicherweise produziert und ist eigentlich unproblematisch. Bei einer Alzheimer-Erkrankung jedoch – die Ursachen dafür sind nicht gänzlich verstanden – verklumpt dieses Molekül. Die dabei entstehenden Aggregate lagern sich dann als sogenannte Plaques zwischen den Nervenzellen des Gehirns ab, aber auch in dessen Blutgefäßen: Nervenzellen und Gefäße nehmen davon Schaden. Schon viele Studien haben sich daher mit Amyloid-β befasst, Medin hingegen stand bisher nicht im Fokus des Interesses. „Es gab bislang wenig Hinweise auf klinisch auffällige Befunde in Zusammenhang mit Medin – und das ist oft die Voraussetzung dafür, sich mit einem speziellen Protein genauer zu beschäftigen. Unsere Studien zeigen nun, dass die Bedeutung von Medin für die Alzheimer-Erkrankung unterschätzt wurde“, erläutert Dr. Jonas Neher, Forschungsgruppenleiter am DZNE-Standort Tübingen.

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Träge Gefäße durch Ablagerungen von Medin

Tatsächlich findet sich Medin in den Blutgefäßen von fast jedem Menschen im Alter über 50: Es ist somit das häufigste unter den bekannten Amyloiden. Mit seinem Team stellte Jonas Neher bereits vor einiger Zeit fest, dass Ablagerungen von Medin die Elastizität von Blutgefäßen verringern. Wenn das Gehirn aktiv wird und mehr Blut benötigt, dehnen sich Gefäße mit Medin-Ablagerungen daher langsamer aus als solche ohne Medin: Die Gefäße sind versteift und reagieren träge. Das ist problematisch, denn die Fähigkeit, sich rasch auszudehnen, ist wichtig, um das Gehirn optimal mit Sauerstoff und Nährstoffen zu versorgen.

Mitverursacher für Schäden im Gehirn

Auf diesen Befunden baute die Forschungsgruppe um Neher für ihre jüngsten Studien auf. An den Untersuchungen waren unter anderem auch das Tübinger Hertie-Institut für klinische Hirnforschung beteiligt und darüber hinaus Institutionen aus Belgien, Großbritannien, Schweden sowie den USA. Zunächst fanden die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler am Beispiel von Mäusen heraus, dass sich Medin noch stärker in Blutgefäßen des Gehirns anreichert, wenn dort Ablagerungen von Amyloid-β vorliegen. Für den Menschen konnten sie diesen Effekt ebenfalls nachweisen – anhand von Gewebeproben von Organspendern, die mit Alzheimer verstarben. Laborstudien zeigten wiederum: Wurden Mäuse genetisch so verändert, dass ihr Organismus kein Medin produzierte, kam es zu deutlich weniger Ablagerungen von Amyloid-β und auch zu deutlich weniger Schäden an den Blutgefäßen. „Letztlich konnten wir über viele Untersuchungen belegen, dass Medin die vaskuläre Pathologie bei der Alzheimer-Erkrankung verstärkt“, so Neher. „Die Medin-Ablagerungen sind ein Mitverursacher der Gehirnschäden, die eben nicht nur Nervenzellen, sondern auch Hirngefäße betreffen.“

Ansätze für die Therapie

Wie die Forschenden feststellten, lagern sich Amyloid-β und Medin nicht nur nebeneinander in den Blutgefäßen ab; diese Eiweißstoffe verkleben auch miteinander: Es bilden sich demnach gemischte Verklumpungen. „Medin interagiert direkt mit Amyloid-β und fördert dessen Aggregation. Dieses Phänomen war noch vollkommen unbekannt“, sagt Neher. Die Erkenntnis nährt Hoffnungen auf die Entwicklung neuer Behandlungsmöglichkeiten. „Medin könnte ein therapeutisches Ziel sein, um vaskuläre Schäden und kognitive Verschlechterungen zu verhindern“, sagt der Wissenschaftler. In Fachkreisen ist es unstrittig, dass die Symptome einer Alzheimer-Demenz nicht nur auf Protein-Aggregate im Hirngewebe zurückgehen, sondern auch auf vaskuläre Veränderungen – also auf die verringerte Funktion oder die Beschädigung von Blutgefäßen. Würde eine Therapie daher nicht nur bei den Plaques ansetzen, sondern auch bei den Blutgefäßen, könnten Patientinnen und Patienten davon profitieren. In Laborstudien mit Mäusen möchte das Team um Neher daher untersuchen, ob sich bereits gebildete Medin-Aggregate therapeutisch entfernen lassen und ob dieser Eingriff tatsächlich einen Einfluss auf die Gedächtnisleistung hat. Sollten die Ergebnisse vielversprechend sein, könnten sie nachfolgende Studien am Menschen anstoßen.

Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE)

Das DZNE ist eine medizinische Forschungseinrichtung mit bundesweit zehn Standorten. Es widmet sich Erkrankungen des Gehirns und Nervensystems wie Alzheimer, Parkinson und Amyotropher Lateralsklerose (ALS), die mit Demenz, Bewegungsstörungen und anderen schwerwiegenden Beeinträchtigungen der Gesundheit einhergehen. Ziel des DZNE ist es, neuartige Strategien der Vorsorge, Diagnose, Versorgung und Behandlung zu entwickeln und in die Praxis zu überführen. Dafür kooperiert es mit Universitäten, Universitätskliniken und anderen Institutionen im In- und Ausland.

Das DZNE ist Mitglied der Helmholtz-Gemeinschaft und gehört zu den Deutschen Zentren der Gesundheitsforschung, die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) eingerichtet wurden, um die Versorgung für die wichtigsten Volkskrankheiten zu verbessern. Es wird vom BMBF und den Ländern gefördert, in denen die Standorte des DZNE angesiedelt sind.

Weitere Informationen im Internet unter www.dzne.de sowie auf Facebook unter www.dzne.de/facebook.

Originalveröffentlichung:
Wagner, J., et al. (2022). Medin co-aggregates with vascular amyloid-β in mouse models and Alzheimer patients. Nature (2022). DOI: 10.1038/s41586-022-05440-3

Ansprechpartner:
Dr. Jonas Neher
Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE)
Otfried-Müller-Straße 23
72076 Tübingen
E-Mail: jonas.neher@dzne.de

Pressekontakt:
Dr. Marcus Neitzert
Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE)
Stabsstelle Kommunikation
Venusberg-Campus 1/99
53127 Bonn
E-Mail: marcus.neitzert@dzne.de