Dezember 2022

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Alzheimer: Schützende Immunzellen schon Jahrzehnte vor Ausbruch aktiv

Bei Menschen mit genetischer Veranlagung für Alzheimer entfalten die Immunzellen des Gehirns bis zu zwei Jahrzehnte vor dem Auftreten von Demenzsymptomen schützende Wirkung. Diese Erkenntnisse des DZNE bieten Ansatzpunkte für künftige Therapien.

MRT-Aufnahme

Im Rahmen der aktuellen Studie wurden unter anderem Untersuchungen des Gehirns durchgeführt.

Katarzyna Bialasiewicz/Thinkstock

Die Befunde stammen aus der internationalen Langzeitstudie DIAN (Dominantly Inherited Alzheimer Network), die sich der genetisch bedingten Variante der Alzheimer-Erkrankung widmet. Etwa ein Prozent aller Menschen mit Alzheimer entwickelt diese Form der Erkrankung, die infolge von Genmutationen von Generation zu Generation vererbt wird.

Anhand von Daten aus DIAN untersuchte jetzt ein Team um den Münchner Molekularbiologen Prof. Dr. Christian Haass den Zusammenhang zwischen der Aktivität der Immunzellen des Gehirns – der sogenannten Mikroglia – und Biomarkern der Alzheimer-Erkrankung. Die Forschenden analysierten hierfür das Nervenwasser und die geistige Leistungsfähigkeit von 248 Teilnehmenden der DIAN-Studie über Jahre hinweg. Darüber hinaus wurden Untersuchungen des Gehirns mittels Magnetresonanztomografie (MRT) und Positronen-Emissionstomografie (PET) durchgeführt.

Moleküle im Nervenwasser

Logo DZNE

Der Fokus galt dabei einem Eiweißstoff namens TREM2, der auf der Oberfläche von Mikroglia vorkommt. Teile davon können sich jedoch ablösen und sind dann im Nervenwasser nachweisbar. „Man weiß aus Laborstudien, insbesondere an Mäusen, aber auch aus Studien am Menschen, dass der Spiegel von TREM2 im Nervenwasser die Aktivität der Mikroglia widerspiegelt. Mit dem TREM2-Spiegel wächst auch die schützende Aktivität der Mikroglia. Dieser Messwert ist also eine Art Aktivitätsindikator“, erläutert Christian Haass, Forschungsgruppenleiter am DZNE und Professor für Biochemie an der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU).

Die Mikroglia wurden lange kritisch gesehen. Man vermutete, dass sie bei einer Alzheimer-Erkrankung hauptsächlich Schaden anrichten, weil sie Entzündungsprozesse befeuern können. „Es mehren sich jedoch die Hinweise dafür, dass die Mikroglia zumindest am Anfang der Erkrankung eine Schutzwirkung haben. Diese Vermutung wird durch unsere aktuellen Daten bestärkt.“

Die Neurologin Dr. Estrella Morenas-Rodríguez, seinerzeit Postdoc-Wissenschaftlerin am DZNE und mittlerweile in Spanien tätig, fügt hinzu: „Wir waren erstmals in der Lage, den Anstieg von TREM2 longitudinal zu messen. Wir haben diesen Biomarker also in mehreren Proben untersucht, die jeweils von denselben Personen stammten und im Abstand von ein oder zwei Jahren entnommen wurden. Damit konnten wir die Entwicklung bestimmter Prozesse im Laufe der Alzheimer-Erkrankung über einen längeren Zeitraum erfassen.“

Lange im Voraus auffällig

Menschen mit einer genetischen Veranlagung für Alzheimer erkranken in der Regel im ähnlichen Alter wie ihre Verwandten mit der gleichen Mutation, die Demenzsymptome bereits aufweisen. Aufgrund dieser Erfahrungswerte konnten die Forschenden des DZNE den Zeitraum bis zum Ausbruch von Symptomen für alle Studienteilnehmenden individuell abschätzen. Dabei stießen sie auf frühzeitige Anzeichen einer Erkrankung. „Wir haben festgestellt, dass der TREM2-Wert im Nervenwasser bis zu 21 Jahre vor dem geschätzten Ausbruch der Erkrankung ansteigt“, so Haass. „Außerdem haben wir beobachtet, dass bestimmte Prozesse im Gehirn, die für Alzheimer typisch sind, umso langsamer voranschreiten, je schneller der TREM2-Wert im Laufe der Jahre zunimmt. Das können wir aus Biomarkern für bestimmte Proteine ableiten.“

Die Untersuchungen des Gehirns wiesen in eine ähnliche Richtung: Bei Studienteilnehmenden, bei denen der TREM2-Wert rasch anstieg, entwickelten sich die für Alzheimer charakteristischen Ablagerungen sogenannter Amyloid-Proteine langsamer und das Hirnvolumen ging langsamer zurück. „Einer unserer wichtigsten Befunde ist zudem, dass der schnellere TREM2-Anstieg im frühen Stadium der Alzheimer-Krankheit mit einem langsameren kognitiven Abbau einhergeht. Das ist bedeutsam für die Behandlung“, so Morenas-Rodríguez.

Die Forschenden sehen diese Befunde als Beleg dafür, dass die von TREM2 vermittelte Aktivität der Mikroglia eine schützende Wirkung hat. „Nach unserer Ansicht werden die Mikroglia aktiv, sobald sich erste Amyloid-Proteine im Gehirn ablagern. Diesen Vorgang nennt man Seeding“, so Haass. „Die Immunzellen werden also schon in einer sehr frühen Phase der Alzheimer-Erkrankung aktiv, lange bevor sich Auswirkungen auf das Gedächtnis bemerkbar machen.“

Ansatz für neue Therapien

Das Team um Christian Haass forscht schon seit einiger Zeit an Wirkstoffen, um die schützende Wirkung der Mikroglia gezielt zu stärken. Ansatzpunkt ist das auf der Zelloberfläche verankerte TREM2-Molekül. „Wir sind noch in der Laborphase. Die aktuellen Ergebnisse beim Menschen zeigen jedoch, dass die Beeinflussung von TREM2 eine vielversprechende Strategie ist, um neue Optionen gegen Alzheimer zu entwickeln“, so der Wissenschaftler. „In diesem speziellen Fall haben wir zwar die genetisch bedingte Form von Alzheimer untersucht, wir gehen aber davon aus, dass unsere Befunde auch für die sogenannte sporadische Krankheitsvariante relevant sind, die weitaus häufiger vorkommt. Entscheidend ist sicherlich, dass die Behandlung frühzeitig beginnt. Die heutigen Therapien kommen viel zu spät, um wirklich wirksam zu sein.“

Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE)

Das DZNE ist ein medizinisches Forschungsinstitut mit bundesweit zehn Standorten. Es widmet sich Erkrankungen des Gehirns und Nervensystems wie Alzheimer, Parkinson und ALS, die mit Demenz, Bewegungsstörungen und anderen schwerwiegenden Beeinträchtigungen der Gesundheit einhergehen. Ziel des DZNE ist es, neuartige Strategien der Vorsorge, Diagnose, Versorgung und Behandlung zu entwickeln und in die Praxis zu überführen. Dafür kooperiert es mit Universitäten, Universitätskliniken und anderen Institutionen im In- und Ausland.

Das DZNE ist Mitglied der Helmholtz-Gemeinschaft und gehört zu den Deutschen Zentren der Gesundheitsforschung, die auf Initiative des Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) eingerichtet wurden, um Maßnahmen gegen die wichtigsten Volkskrankheiten zu entwickeln. Es wird vom BMBF und von den Ländern gefördert, in denen die Standorte des DZNE angesiedelt sind. Weitere Informationen im Internet unter www.dzne.de sowie auf Facebook unter www.dzne.de/facebook.

Originalpublikation:

Morenas-Rodriguez, E. et al. (2022). Soluble TREM2 in CSF and its association with other biomarkers and cognition in autosomal-dominant Alzheimer’s disease: a longitudinal observational study. The Lancet Neurology (2022), DOI: 10.1016/S1474-4422(22)00027-8

Ansprechpartner:

Prof. Dr. Christian Haass
Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE)
Feodor-Lynen-Str. 17
81377 München
E-Mail: christian.haass@dzne.de 

Pressekontakt:

Sabine Hoffmann
Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE)
Stabsstelle Kommunikation
Venusberg-Campus 1/99
53127 Bonn
E-Mail: sabine.hoffmann@dzne.de