Juni 2023

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Computermodelle ermitteln gefährliche Wechselwirkungen von Arzneimitteln

Wenn Patientinnen und Patienten dauerhaft mehrere Medikamente einnehmen, birgt dies erhebliche Risiken. Eine neue Software soll helfen, Wechselwirkungen von Arzneimitteln vorherzusagen und für jede und jeden Einzelnen die richtige Medikamentendosis zu bestimmen.

Eine Person sortiert Medikamente in eine Mehrtagesbox

Gefährliche Polymedikation: Mit zunehmendem Alter steigt die Zahl der Menschen, die fünf oder mehr Medikamente pro Tag einnehmen müssen. Dies birgt teils erhebliche Gesundheitsrisiken.

Przemek Klos/Adobe Stock

Manche Wechselwirkungen zwischen Medikamenten sind weitgehend bekannt, etwa der Effekt bestimmter Schmerzmittel auf Blutverdünner oder die verstärkende Wirkung von Abführmitteln auf Herzmedikamente. Doch bleiben Unsicherheiten, denn mit zunehmendem Alter steigt auch die Zahl der Patientinnen und Patienten, die täglich fünf oder mehr Medikamente einnehmen. Laut der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände betrifft dies rund 7,6 Millionen Menschen in Deutschland. In der Altersgruppe zwischen 75 und 80 Jahren benötigt demnach sogar jeder Dritte mehr als acht Arzneimittel pro Tag. Hier können die behandelnden Ärztinnen und Ärzte schnell den Überblick verlieren. Zudem hätten längst nicht alle Patientinnen und Patienten einen Medikationsplan und wenn ja, sei dieser oft unvollständig oder fehlerhaft, warnen die Apothekerverbände. Mit teils fatalen Folgen für die Betroffenen: Bis zu 30 Prozent der Krankenhauseinweisungen älterer Menschen sind auf unerwünschte Arzneimittelwirkungen zurückzuführen – ein Großteil davon auf Polymedikation, also die Einnahme von fünf oder mehr Medikamenten.

Gene entscheiden mit über die Wirkung
So vielfältig wie die Wechselwirkungen von Medikamenten sind auch die genetischen Veranlagungen der Erkrankten, die damit behandelt werden. „Genetische Varianten haben einen entscheidenden Einfluss darauf, wie ein bestimmter Wirkstoff vom Körper aufgenommen, verteilt, abgebaut und ausgeschieden wird“, erklärt Professor Dr. Thorsten Lehr von der Universität des Saarlandes. „Werden diese genetischen Faktoren nicht bedacht, kann dies ebenfalls zu erheblichen Gesundheitsrisiken führen.“ Der klinische Pharmazeut entwickelt daher zusammen mit einem internationalen Forschungsteam Computermodelle, die sowohl die Interaktionen von Arzneimitteln untereinander als auch die genetische Veranlagung der Betroffenen berücksichtigen und mögliche Komplikationen vorhersagen können. Auf Basis dieser Modelle entsteht eine internetbasierte Plattform, mit deren Hilfe Ärztinnen und Ärzte künftig einfach und schnell die individuell am besten geeignete Medikation bestimmen können. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) unterstützt Lehrs Team und eine weitere deutsche Arbeitsgruppe im Rahmen der europäischen Fördermaßnahme ERACoSysMed.

Porträt Prof. Dr. Thorsten Lehr

Prof. Dr. Thorsten Lehr

Universität des Saarlandes

Im Fokus des internationalen Forschungsprojekts „INSPIRATION“ stehen zunächst Arzneimittel, die in der Praxis häufig zu Problemen führen, wie Medikamente zur Behandlung von Infektionskrankheiten oder Immunsuppressiva. Die Modelle werden mit relevanten Studien zu den jeweiligen Wirkstoffen sowie Patientendaten vom klinischen Partner des Projekts, dem Leiden University Medical Center, trainiert. „Unser Ziel ist, dass die Software irgendwann für alle gängigen Medikamente funktioniert“, so Lehr. „Hierfür entwickeln wir eine Toolbox, die beliebig um weitere Wirkstoffe erweitert werden kann.“

Tabletten aus dem 3-D-Drucker

Die Forscherinnen und Forscher rechnen damit, dass ihre Entwicklung in einigen Jahren einsatzbereit ist. In der klinischen Praxis könnte das so aussehen: Die Ärztin oder der Arzt gibt alle Arzneimittel, die ein bestimmter Patient nimmt, in die Computer-Plattform ein. Hinzu kommen weitere wichtige Informationen zum Zustand des Erkrankten sowie zu individuellen genetischen Faktoren, die die Aufnahme, Verstoffwechselung oder Ausscheidung der Wirkstoffe beeinflussen könnten. „So wollen wir das Risiko von unerwünschten Arzneimittelwirkungen deutlich reduzieren“, sagt Lehr.

Doch die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler denken noch einen Schritt weiter: Ihre Software soll künftig die Dosierung jedes einzelnen Medikaments auf das Milligramm genau berechnen können. „Bei den Arzneistoffen müssen wir künftig wegkommen von Einheitsmengen hin zu einer Präzisionsdosierung, die individuell abgestimmt ist“, erklärt Lehr. Der Forscher stellt sich das so vor: Die Plattform ermittelt, wie viel von jedem Arzneimittel für die behandelte Person nötig ist. Ein daran gekoppelter 3-D-Drucker könnte anschließend eine Tablette mit genau diesem Wirkstoff-Mix herstellen. „Das erfordert natürlich ein komplettes Umdenken, was die Herstellung und Zulassung von Medikamenten betrifft“, so Lehr. „Aber es ist einfach der viel effizientere und vor allem der sicherere Weg für die Patientinnen und Patienten.“ Dabei ist den Forscherinnen und Forschern auch bewusst, dass solche Innovationen mit Vorschriften beispielsweise aus dem Bereich der Arzneimittelsicherheit zusammenpassen müssen.

Systemmedizin

Ob Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Demenz oder Krebs – viele Krankheiten haben eines gemeinsam: Entstehung, Verlauf und Therapieerfolg hängen von zahlreichen Faktoren ab. Dazu gehören die genetische Veranlagung, der persönliche Lebensstil und die äußeren Einflüsse. Das Wissen über die Rolle dieser Faktoren wächst dank der modernen Forschung rasant an. Aufgabe der Systemmedizin ist es, das Zusammenspiel all dieser Faktoren umfassend und mithilfe von mathematischen Modellen zu entschlüsseln – und so den Weg für neue Therapien und Präventionsstrategien zu ebnen. Dafür verzahnt sie neueste Erkenntnisse aus der lebenswissenschaftlichen Grundlagenforschung und der Medizin mit dem Wissen und den Methoden aus Informatik, Mathematik und Physik.

Ansprechpartner:
Prof. Dr. Thorsten Lehr
Klinische Pharmazie
Universität des Saarlandes
Campus C5 3
66123 Saarbrücken
Tel.: 0681 302-70255
E-Mail: thorsten.lehr@mx.uni-saarland.de