September 2019

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Ein Register für die Notfallmedizin

Etwa 21 Millionen Erkrankte suchen in Deutschland jährlich die Notaufnahmen auf. Bislang ist es kaum möglich, die Dokumentation dieser Behandlungen für die Forschung zu nutzen. Ein vom BMBF gefördertes Register soll das ändern.

Notfallpatient wird im Bett über Klinikflur geschoben.

Den Ärztinnen und Ärzten der Notaufnahme bleiben oft nur Sekunden oder Minuten, um eine Diagnose zu stellen und die Therapie einzuleiten.

shapecharge/iStock

Oft sind es Minuten, manchmal sogar nur Sekunden, die in der Notaufnahme über Leben und Krankheitsverlauf entscheiden. Unter enormem Zeitdruck nehmen die dort arbeitenden Ärztinnen und Ärzte erste Untersuchungen vor und leiten Therapien ein. Für eine ausführliche Dokumentation bleibt nicht viel Zeit. „Die Dokumentation der unterschiedlichen Kliniken weicht oft stark voneinander ab. Das hat den großen Nachteil, dass sie nicht miteinander verglichen werden können. Denn die Kliniken nutzen für ihre Dokumentation unterschiedliche Verfahren und eigene Protokollvorlagen, die zum Teil noch handschriftlich ausgefüllt werden“, schildert Professor Felix Walcher, Direktor der Klinik für Unfallchirurgie des Universitätsklinikums Magdeburg. „Der Forschung entgeht damit ein wertvoller Datenschatz, der sich für Verbesserungen in der Notfallmedizin nutzen ließe.“

Gemeinsam mit seinem Kollegen Professor Rainer Röhrig initiierte Walcher das Forschungsprojekt „Verbesserung der Versorgungsforschung in der Akutmedizin in Deutschland durch den Aufbau eines Nationalen Notaufnahmeregisters“ (AKTIN). Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) unterstützt die Wissenschaftler dabei. „Mit diesem Projekt schaffen wir eine einheitliche und standardisierte Dokumentation für die Notfallmedizin. Dafür mussten wir eine Infrastruktur etablieren, die Routinedaten in einem schwierigen Umfeld so strukturiert erfasst, dass sie klinikübergreifend genutzt werden können“, erläutert Röhrig, Direktor des Instituts für Medizinische Informatik an der RWTH Aachen. „Das hat Potenzial auch für das Qualitätsmanagement der Kliniken. Denn der klinikübergreifende Vergleich kann Schwachstellen in den eigenen Abläufen aufzeigen und zur Optimierung der Prozesse beitragen“, ergänzt Walcher. Davon wiederum profitieren die Patientinnen und Patienten: Das, was die Notfallmedizin einer Klinik besonders auszeichnet, lässt sich möglicherweise auch in anderen Bereichen der Medizin anwenden.

Daten für die Forschung und das Qualitätsmanagement

Zunächst erarbeiteten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des AKTIN-Projektes ein Protokoll, mit dem Dokumentationen einheitlich und mit wenig Aufwand vorgenommen werden können. Als fachliche Grundlage diente ihnen dafür das Notaufnahmeprotokoll der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI). Für das Register, in dem die Daten zusammengeführt werden, wählten die Initiatoren eine dezentrale Struktur. Das heißt: Die aufgezeichneten Daten verbleiben vor Ort, die Kliniken können die Datenherausgabe jederzeit kontrollieren. Somit können sie sowohl Ihrer Verantwortung im Rahmen von Schweigepflicht und Datenschutz gerecht werden als auch ihre Geschäfts- und Mitarbeiterinteressen wahren. Diese Struktur schafft zudem die Voraussetzung dafür, das Register bundesweit handhaben zu können, denn bei einer Ausweitung auf andere Kliniken wird kaum zusätzlicher Speicherplatz benötigt. Über eine Schnittstelle lässt sich das Register in die Krankenhaus-IT integrieren.

Die im Notaufnahmeprotokoll erfassten Daten erfüllen einen hohen Qualitätsstandard. So soll sichergestellt werden, dass sie auch den Ansprüchen der Forschung gerecht werden – immer unter Berücksichtigung der geltenden Datenschutzregeln. Die beteiligten Kliniken erhalten zudem monatlich eine automatisierte Rückmeldung zur Daten- und Dokumentationsqualität und können diese nutzen, um ihr eigenes Qualitätsmanagement zu verbessern. Diese Rückmeldungsfunktion wird in enger Zusammenarbeit mit den Leiterinnen und Leitern der Notaufnahme stetig verbessert und ausgebaut. „AKTIN zeigt, wie die Qualitätssicherung in den Notaufnahmen durch die Nutzung der in der klinischen Routine erfassten Daten gelingen kann. Das Besondere daran: Für das Personal entsteht dabei, wenn überhaupt, nur ein ganz geringer Mehraufwand“, führt Röhrig aus.

Aktuell umfasst das AKTIN-Notaufnahmeregister eine Million Datensätze. Bislang nehmen bundesweit 16 Notaufnahmen an dem Projekt teil; über sie fließen jedes Jahr circa 500.000 weitere Datensätze in das Register ein.

Versorgungsforschung – forschen für ein patientenorientiertes Gesundheitswesen

Medizinische Fachkraft versorgt Patientin

Die Versorgungsforschung orientiert sich an den Wünschen und Bedürfnissen der Patientinnen und Patienten.

DLR Projektträger/BMBF

Die Versorgungsforschung nimmt die alltägliche Patientenversorgung unter die Lupe: Ist eine neue Behandlungsform auch im Versorgungsalltag wirksam? Wie wird sie von den Patientinnen und Patienten angenommen? Lässt sie sich gut in den medizinischen Alltag in der Praxis oder im Krankenhaus einbauen? Wenn dem nicht so ist, woran könnte es liegen? Die Versorgungsforschung liefert wichtige Antworten auf Fragen wie diese und sichert sie wissenschaftlich ab. Davon profitieren die Patientinnen und Patienten sowie alle Akteure und Entscheidungsträger im Gesundheitswesen.

Zukünftig wird die Versorgungsforschung noch an Bedeutung gewinnen. Denn der demografische Wandel und die gesellschaftlichen Veränderungen stellen auch das Gesundheitssystem vor neue Herausforderungen. Digitalisierung und Künstliche Intelligenz können helfen, diesen Herausforderungen zu begegnen. So ermöglicht das Digitale-Versorgung-Gesetz schon heute die Verordnung von Apps auf Rezept. Online-Sprechstunden und telemedizinische Behandlung werden alltäglich. Aufgabe der Versorgungsforschung wird es sein, diese neuen Versorgungswege mitzugestalten, zu untersuchen und zu bewerten, damit sie den Menschen wirklich helfen.

Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) hat die Versorgungsforschung in den vergangenen Jahren intensiv unterstützt. Mit dem „Aktionsplan Versorgungsforschung“ hat das Ministerium die Versorgungsforschung in Deutschland nachhaltig gestärkt. Dafür hat es insgesamt rund 50 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Mit den Fördergeldern haben Universitäten beispielsweise Professuren und Nachwuchsgruppen eingerichtet, die die Versorgungs- und Altersforschung in Deutschland voranbringen. Darüber hinaus wurden mit Unterstützung des BMBF vier gesundheitsökonomische Zentren gegründet. Sie bündeln die wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Kompetenzen mit medizinischer Expertise, um wichtige gesundheitspolitische Themen vielschichtig zu betrachten.

Frühwarnsystem für Epidemien

Sinnvoller Zusatznutzen des Registers: Die Daten aus den Notaufnahmen helfen zudem beispielsweise bei der Früherkennung von Epidemien. Das hat eine Kooperation zwischen AKTIN und dem Robert Koch-Institut (RKI) sowie dem Niedersächsischen Landesgesundheitsamt (NLG) ergeben, die zugleich den Nachweis erbrachte, dass die Registerdaten auch den Ansprüchen der Forschung Genüge tragen. AKTIN liefert kontinuierlich Daten an beide Institutionen, und diese konnten anhand dieser Daten den Verlauf einer Grippewelle in Niedersachsen nachvollziehen. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse nutzen RKI und NLG für die Entwicklung von Modellen, mit denen sich eine drohende Grippewelle frühzeitig erkennen lässt – inklusive entsprechender Vorwarnung der Bevölkerung.

Aktuell arbeiten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an einem Konzept, das Register dauerhaft und großflächig auszubauen. Dabei zahlt es sich aus, dass sie von Beginn an darauf achteten, Kosten und Belastung für die in den Notaufnahmen arbeitenden Menschen möglichst gering zu halten und eine hohe Vergleichbarkeit der Daten zu garantieren. „Unser Ziel ist es, möglichst viele Kliniken auch außerhalb von Förderungen einzubinden und die Kosten für den Betrieb und die nötigen Anpassungen umlegen zu können. Nur so können wir die Infrastruktur verstetigen“, fügt Röhrig hinzu. Damit dies gelingt, wird für das Register eine preisgünstige sogenannte Open-Source-Technologie eingesetzt, die öffentlich verfügbar ist und den jeweiligen Ansprüchen angepasst werden kann. Um die Interoperabilität und Standardisierung der Daten zu garantieren, gleichen die Forschenden diese zudem mit der durch die BMBF-Medizininformatik-Initiative entstehende Infrastruktur und den dort erarbeiteten Standards ab.

Medizininformatik

ist die Wissenschaft der systematischen Erschließung, Verwaltung, Aufbewahrung, Verarbeitung und Bereitstellung von Daten, Informationen und Wissen in der Medizin und im Gesundheitswesen. Die wissenschaftliche Analyse der vernetzten Daten aus Klinik und Forschung soll helfen, Krankheiten besser zu verstehen, sie gezielter zu behandeln und ihnen wirkungsvoller vorzubeugen. Um das Potenzial der Digitalisierung des Gesundheitswesens zu nutzen, hat die Medizininformatik eine hohe Bedeutung.

Künftig möchten die Forschenden auch die Dokumentation zwischen Rettungsdienst und Notaufnahme vereinheitlichen und entsprechende Standards in der Intensivmedizin etablieren. Damit könnten sie die gesamte Versorgungskette abdecken – mit deutlichen Verbesserungen sowohl für die Krankenversorgung als auch für die Forschung in der Notfallmedizin.

Ansprechpartner:
Prof. Dr. Rainer Röhrig
RWTH Aachen
Institut für Medizinische Informatik
Pauwelsstraße 30
52074 Aachen
rroehrig@ukaachen.de

Prof. Dr. Felix Walcher
Universitätsklinikum Magdeburg
Klinik für Unfallchirurgie
Leipziger Straße 44
39120 Magdeburg
felix.walcher@med.ovgu.de