Juni 2023

| Newsletter 111

„Es gibt mindestens noch 200 unbekannte mitochondriale Erkrankungen“

Mitochondrien in unseren Zellen versorgen den Körper mit Energie. Fehler in ihrem Stoffwechsel sind fatal, denn sie können eine Vielzahl Seltener Erkrankungen auslösen. Der Verbund GENOMIT ist Vorreiter in der Erforschung dieser mitochondrialen Erkrankungen.
 

Grafische Darstellung eines Mitochondriums in einer Körperzelle.

Grafische Darstellung eines Mitochondriums in einer Körperzelle. An der inneren Mitochondrienwand wird in einem mehrstufigen, komplexen Prozess Energie aus der Nahrung abgebaut und auf die im ganzen Körper benötigte „Energiewährung“ Adenosintriphosphat (ATP) übertragen.

crevis/Adobe Stock

Laufen, Denken, Warmbleiben – unser Körper braucht dafür permanent Energie. Diese wird Körperzellen durch Spaltung einer chemischen Verbindung zur Verfügung gestellt: Adenosintriphosphat, kurz ATP. Gebildet wird das ATP vor allem in winzigen Zellbestandteilen – den Mitochondrien – in der sogenannten Atmungskette. Stimmt mit den Mitochondrien etwas nicht, fehlt ATP und damit Energie für die Körperzellen. Insbesondere Organe mit einem hohen Energiebedarf wie Herz und Gehirn können betroffen sein – mit schwerwiegenden Folgen für die Patientinnen und Patienten. Diese Krankheitsbilder werden unter dem Begriff mitochondriale Erkrankungen zusammengefasst und gelten als Seltene Erkrankungen, weil nur sehr wenige Menschen weltweit von diesen meist genetisch bedingten Veränderungen betroffen sind. Der Humangenetiker Dr. Holger Prokisch und sein Team am Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München und am Helmholtz Zentrum München erforschen mit Förderung durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im Verbund GENOMIT seit nunmehr elf Jahren diese Erkrankungen. In dieser Zeit wurde viel für eine bessere Diagnostik und Therapie der Betroffenen erreicht. Es wurden mehr als 1.000 Patientinnen und Patienten diagnostiziert und über 60 neue mitochondriale Erkrankungen beschrieben. Und doch gibt das Mitochondrium den Forschenden weiterhin Rätsel auf, die in einer neuen, vierten Förderperiode angegangen werden.

Erforschung von mitochondrialen Erkrankungen

Der internationale Verbund GENOMIT wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) in der Fördermaßnahme E-Rare/European Joint Programme on Rare Diseases (EJP RD) seit dem Jahr 2012 mit insgesamt rund 1,6 Millionen Euro gefördert. Eine vierte Förderperiode beginnt voraussichtlich im Herbst 2023.
Der nationale Verbund mitoNET wurde in der Fördermaßnahme der nationalen Verbünde für Seltene Erkrankungen seit 2009 für drei Förderperioden mit 7,5 Millionen Euro gefördert.

Herr Dr. Prokisch, hält das Mitochondrium für Sie noch irgendwelche Überraschungen bereit?

Aber ja – jede Menge. Ein Beispiel: Wir verstehen zum Beispiel bis heute nicht, was genau Menschen krank macht, die einen Defekt im Mitochondrium haben. In den Mitochondrien entsteht ATP als universelle Energiewährung aller Zellen. Wenn nicht genug ATP produziert werden kann, dann müssten eigentlich immer alle Organe betroffen sein, denn alle Organe brauchen Energie. Tatsächlich gibt es aber mitochondriale Erkrankungen, da kann man laufen, aber das Gehirn ist in Mitleidenschaft gezogen – und es gibt andere, da kann man gut denken, aber nicht laufen. Das ist eine Forschungsfrage, die uns sehr interessiert: Wie kommt es zu dieser gewebespezifischen Ausprägung von mitochondrialen Erkrankungen?

Ein weiteres Beispiel: Wir wissen, dass es mehr als 1.000 verschiedene Proteine in den Mitochondrien gibt. Das bedeutet, dass es mehr als 1.000 Bausteine gibt, die essenziell für die Funktion dieses Zellorganells sind. Aktuell sind 435 verschiedene mitochondriale Erkrankungen bekannt. Aber ich würde sagen, es gibt mindestens noch 200 weitere Erkrankungen, die wir noch nicht beschrieben haben. Und diese Zahl bezieht sich nur auf Erkrankungen, bei denen die Veränderung in einem Gen krankheitsauslösend ist. Was ist, wenn ein Patient nur dann krank wird, wenn er Defekte in zwei verschiedenen Genen hat? Viele Patienten, bei denen wir im Moment noch keine Diagnose stellen konnten, könnten solche Konstellationen aufweisen.

Ist es in den vergangenen Jahren einfacher geworden, eine mitochondriale Erkrankung zu entdecken?

Das ist etwas, worauf wir wirklich stolz sind: Wir waren weltweit die Ersten, die bei dem Verdacht auf eine mitochondriale Erkrankung die gesamte codierende Erbsubstanz der Betroffenen durchsucht haben – und nicht nur, wie früher üblich, einzelne Teilbereiche. Hier gab es starke ethische Bedenken, denn natürlich besteht die Möglichkeit, bei einer solchen Untersuchung auch andere krankheitsauslösende Gene zu entdecken. Es waren die Patientenorganisationen, die uns den Rückhalt gegeben und darauf gedrängt haben, sich das gesamte Bild anzuschauen. Seit 2019 kann diese sogenannte Exom-Diagnostizierung sogar über die Krankenkassen abgerechnet werden.

Dieser umfassende Blick hilft uns auch, die Zusammenhänge besser zu verstehen: Vergangenes Jahr haben wir beispielsweise das Gen DNAJC30 beschrieben, von dem bis dahin noch unklar war, welche Funktion es überhaupt im menschlichen Erbgut hat. Wir konnten zeigen, dass es für einen bis dahin noch völlig unbekannten Reparaturmechanismus in den Mitochondrien verantwortlich ist und Defekte im Gen zu einer mitochondrialen Erkrankung führen.

Porträt Dr. Holger Prokisch

Dr. Holger Prokisch

privat

Das Wissen um die Ursache für Beschwerden ist für Betroffene enorm wichtig – aber gibt es auch Behandlungserfolge?

Auch hier ist die Situation vielschichtig: Es gibt mitochondriale Erkrankungen, bei denen die Transporter für bestimmte Vitamine wie beispielsweise Vitamin B2 aufgrund einer genetischen Veränderung beschädigt sind. Diese Patienten kann man nahezu heilen, wenn man sie mit hohen Dosen Vitamin B2 behandelt, und wir freuen uns sehr über diese Erfolge. Leider gibt es aber bislang nur ein einziges Medikament für mitochondriale Erkrankungen, das die entsprechenden klinischen Studien durchlaufen hat und von der Europäischen Arzneimittelbehörde zugelassen wurde: Mein Kollege Professor Thomas Klopstock von der Universität München belegte hierzu in einer klinischen Studie, dass der Wirkstoff Idebenon die Sehfähigkeit von Menschen mit einer sogenannten Leberschen Hereditären Optikus-Neuropathie (LHON) deutlich verbessert. Ohne Behandlung verlieren die Betroffenen binnen Wochen weitgehend ihre zentrale Sehfähigkeit – und zwar dauerhaft.

Die meisten Patientinnen und Patienten mit mitochondrialen Erkrankungen werden jedoch im Rahmen eines individuellen Heilversuchs behandelt, weil diese Krankheiten so selten sind. Wenn es eine Therapieoption für sie gibt, muss man sie sofort behandeln und kann nicht warten, bis genug weitere Betroffene für eine klinische Studie gefunden werden. Aber nicht nur die niedrigen Patientenzahlen sind eine Hürde: Für Firmen der pharmazeutischen Industrie sind derartige Studien eine Herausforderung, weil sie teuer und langwierig sind, neue Arzneimittel aufgrund der geringen Patientenzahlen aber wenig Gewinne versprechen.

Wie geht es weiter für GENOMIT in der nächsten Förderperiode?

Ein wichtiges Thema für uns sind Patientenregister: In Deutschland machte im Jahr 2009 mitoNET, das deutsche Netzwerk für mitochondriale Erkrankungen, mit Förderung durch das BMBF den Anfang. Mittlerweile haben wir dort Daten von rund 2.000 Patientinnen und Patienten erfasst. Parallel entstanden im Ausland weitere nationale Register. Diese möchten wir zusammenführen und möglichst zu einem globalen Register ausbauen, denn nur so können wir erfolgreich klinische Studien für mitochondriale Erkrankungen durchführen.

Ein weiteres Zukunftsthema sind für uns Biomarker. Wir brauchen verlässliche Parameter, um den Verlauf einer Erkrankung genauer zu beschreiben, denn nur so können wir beurteilen, ob eine neue Therapie auch erfolgreich ist. Und wir wollen die Diagnose weiter verbessern. Bei mitochondrialen Erkrankungen erreichen wir mit unseren Methoden mittlerweile eine diagnostische Rate von 55 Prozent – wir können bei 55 von 100 Erkrankten die Ursache der Erkrankung finden. Bei den anderen 45 ist man sich nicht sicher. Auch da brauchen wir verlässliche Biomarker, die uns anzeigen, ob wirklich eine mitochondriale Erkrankung vorliegt oder vielleicht eine andere Ursache, die ähnliche Symptome zeigt.

Funktionierende Mitochondrien sind so wichtig für unsere Gesundheit – warum sind sie so fehleranfällig?

Lassen Sie mich mit einem Vergleich antworten: Ich habe vor 20 Jahren meine Autos noch selbst repariert, bei den modernen Fahrzeugen ist daran nicht mehr zu denken. Was ich damit sagen will: Wenn etwas sehr leistungsfähig und komplex ist, muss es nicht unbedingt robuster sein. Und wir reden hier ja von Erkrankungen, von denen nur wenige Menschen betroffen sind. Beim Großteil der Bevölkerung funktionieren die Mitochondrien einwandfrei, abgesehen davon, dass auch diese Zellorganellen im Alter nicht mehr so leistungsfähig sind.

Originalpublikationen:
Stenton, S. L., Sheremet, N. L., Catarino, C. B., et al. (2021). Impaired complex I repair causes recessive Leber’s hereditary optic neuropathy. J Clin Invest. 131(6):e138267. DOI: 10.1172/JCI138267. PMID: 33465056; PMCID: PMC7954600

Stenton, S. L., Tesarova, M., Sheremet, N. L., et al. (2022). DNAJC30 defect: a frequent cause of recessive Leber hereditary optic neuropathy and Leigh syndrome. Brain. 145(5):1624–1631. DOI: 10.1093/brain/awac052. PMID: 35148383; PMCID: PMC9166554

Schlieben, L. D., Prokisch, H. (2023). Genetics of mitochondrial diseases: Current approaches for the molecular diagnosis. Handb Clin Neurol. 194:141–165. DOI: 10.1016/B978-0-12-821751-1.00011-7. PMID: 36813310

Ansprechpartner:
Dr. Holger Prokisch
Institut für Humangenetik
Klinikum rechts der Isar der
Technischen Universität München
Ismaninger Straße 22
81675 München
E-Mail:holger.prokisch@helmholtz-munich.de