Es sind längst nicht alle Nebenwirkungen bekannt

Herr Prof. Haefeli, ständig kommen neue Medikamente auf den Markt. Kann ein Arzt noch alle möglichen Nebenwirkungen überblicken?
Nein, natürlich nicht. Dazu gibt es viel zu viele Wirkstoffe. Außerdem sind längst nicht alle Nebenwirkungen bekannt. Um zugelassen zu werden, muss bei einem Medikament in erster Linie feststehen, dass es gegen die jeweilige Krankheit hilft. Die Sicherheit hat einen viel geringeren Stellenwert. So umfassen die allermeisten Studien zur Neuzulassung von Arzneimitteln gerade einige tausend Patienten. Das sind zu wenig, um seltene Nebenwirkungen verlässlich nachzuweisen. Die Annahme, dass ein Medikament sicher ist, weil es zugelassen wurde, trifft deshalb nicht unbedingt zu.

Viele Menschen müssen mehrere Arzneien gleichzeitig einnehmen. Sind Wechselwirkungen zwischen Medikamenten ausreichend erforscht?
Leider wissen wir auch über Wechselwirkungen nicht genug. Das liegt allein schon an der Vielzahl möglicher Kombinationen. Mit jedem Medikament, das ein Patient zusätzlich einnimmt, verdoppelt sich ungefähr die Zahl der Medikamentenkombinationen. Wenn ein Patient zehn verschiedene Arzneien erhält und das ist bei vielen chronisch Kranken der Fall ergeben sich allein bei ihm 45 Zweierkombinationen. Das kann man unmöglich überblicken. Manchmal wundert es mich, dass trotzdem gar nicht so viel passiert. Gelegentlich dauert es erstaunlich lange, bis schwerwiegende Wechselwirkungen entdeckt werden, besonders wenn sie nicht mit der eigentlichen Wirkung zusammenhängen, also unerwartet sind. Ein gutes Beispiel für die Folgen unterschätzter Wechselwirkungen ist Johanniskraut. Die Substanz schwächt die Wirkung vieler anderer Medikamente ab. Eine ganze Reihe von Abstoßungsreaktionen gegen ein transplantiertes Organ trotz der Behandlung mit Immunsuppressiva oder von Schwangerschaften trotz Pille sind darauf zurückzuführen, dass gleichzeitig Johanniskrautpräparate eingenommen wurden.

Was sind die häufigsten Fehler bei der medikamentösen Therapie?
Am häufigsten sind falsche Dosierungen. Betagte Patienten sind hiervon besonders oft betroffen. Bei ihnen kann es durch Substanzen wie Schlafmittel, die im Gehirn wirken, gehäuft zu Stürzen und dadurch zu Knochenbrüchen kommen, wenn keine alters entsprechend reduzierten Dosen verabreicht werden. Oft wird auch nicht beachtet, dass viele Medikamente bei Nierenkranken niedriger dosiert werden müssen, weil sie viel langsamer aus dem Körper ausgeschieden werden. Wir haben in einer Studie gezeigt, dass sogar Nierenfachärzte bei zwei Dritteln ihrer Patienten zu hohe Dosen verordnen. Ein anderes Problem sind Einnahmefehler. So ist es bei einigen Antibiotika wichtig, dass sie nüchtern eingenommen werden. Nach dem Essen kann der Körper sie nicht ausreichend aufnehmen.

Bei welchen Patienten treten Neben- und Wechselwirkungen besonders oft auf?
Besonders viele unerwünschte Wirkungen haben Zytostatika, also Medikamente, die gegen Krebs eingesetzt werden. Trotzdem kommt man um die Therapie mit diesen Mitteln bei den meisten bösartigen Tumoren nicht herum. Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten treten oft bei Arzneistoffen auf, die die Immunabwehr unterdrücken, zum Beispiel um die Abstoßung eines transplantierten Organs zu verhindern. Aber auch Mittel gegen HIV, Tuberkulose und Epilepsie beeinflussen oft die Wirkung anderer Medikamente.

Wie lassen sich unvorhergesehene Neben- und Wechselwirkungen verhindern?
Ärzte sollten sich bei ihren Verordnungen auf ein möglichst kleines Sortiment von Medikamenten beschränken, deren mögliche Neben- und Wechselwirkungen sie kennen und überblicken können. Außerdem sollten Therapien mit neueren Präparaten grundsätzlich besonders wachsam durchgeführt werden, um seltene unerwünschte Wirkungen zu entdecken. Langfristig brauchen wir aber elektronische Hilfen, also zum Beispiel Computerprogramme, die den Arzt auf die Gefahr von Wechselwirkungen zwischen den verordneten Mitteln aufmerksam machen oder ihn warnen, wenn er bei einem Nierenkranken die Dosis eines Medikamentes reduzieren muss. Oft lassen sich schon durch kleine Maßnahmen Probleme verhindern, etwa durch eine andere Dosierung oder ein anderes Arzneimittel, das ähnlich wirkt, sich aber besser mit den übrigen Medikamenten des Patienten verträgt. Die sorgfältige Wahl der Begleitmedikation ist beispielsweise bei den weit verbreiteten cholesterinsenkenden Medikamentenkombinationen besonders wichtig.