Dezember 2019

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Hilfe für Jugendliche mit Adipositas: Studie zeigt neue Versorgungswege auf

Für Jugendliche mit extremer Adipositas fehlte bislang ein wissenschaftlich basiertes Betreuungs- und Behandlungskonzept. Die „JA“-Studie, ein vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördertes Verbundprojekt, hat dies nun erstellt.

Prof. Dr. Martin Wabitsch in einem Behandlungsraum mit adipösem Jugendlichen

Dank der von einer interdisziplinären Forschergruppe unter Leitung von Prof. Dr. Martin Wabitsch durchgeführten „JA-Studie“ gibt es jetzt ein Konzept für eine adäquate medizinische und psychosoziale Versorgung von extrem adipösen Jugendlichen.

Universitätsklinik Ulm

Mit der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten „JA“-Studie hat eine interdisziplinäre Forschergruppe unter Leitung von Professor Dr. Martin Wabitsch, Sektion Pädiatrische Endokrinologie und Diabetologie an der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin am Uniklinikum Ulm, die Grundlagen geschaffen, um diese Lücke zu schließen. „Uns ging es darum, Informationen zu erlangen, mit deren Hilfe die medizinische Versorgung und die sozialen Strukturen zur Unterstützung von Jugendlichen mit extremer Adipositas in Deutschland verbessert werden können“, beschreibt der Mediziner das Ziel der Studie. „Zum einen liegt jetzt eine Checkliste für Indikationskriterien der bariatrischen Chirurgie vor, zum anderen ein innovatives, standardisiertes Konzept für eine adäquate medizinische und psychosoziale Versorgung dieser besonderen Patientengruppe.“

An bundesweit fünf Standorten – neben Ulm an der Berliner Charité, am Uniklinikum Leipzig, am LVR- Klinikum Essen sowie an der Vestischen Kinder- und Jugendklinik Datteln – wurde das neue Konzept entwickelt, implementiert und etabliert. „So konnten wir mit 431 Teilnehmenden eine große Zahl extrem adipöser Jugendlicher in Deutschland rekrutieren und sie in eine Verlaufsstudie einbeziehen. Ihren Krankheitsverlauf beobachten wir mittels regelmäßiger Nachuntersuchungen über einen Zeitraum von mehreren Jahren“, erläutert Wabitsch. „Unseres Wissens ist es eine weltweit einzigartige Studie mit einer großen Anzahl an Probanden.“ Das im Rahmen der Studie entwickelte Versorgungskonzept wird auch nach Abschluss der Studie in den spezialisierten Behandlungszentren eingesetzt; es soll zudem anderen Zentren zugänglich gemacht werden, die extrem adipöse Jugendliche behandeln.

Adipositas

Unter Adipositas wird eine übermäßige Vermehrung von Körperfett verstanden; laut Definition spricht man bei Erwachsenen ab einem Body-Mass-Index (BMI) von über 30 kg/m2 von Adipositas und bei einem BMI von über 40 kg/m2 von extremer Adipositas. Aber auch viele Jugendliche sind betroffen: In Deutschland leiden in der Altersgruppe der 14- bis 21-Jährigen mehr als 200.000 Mädchen und Jungen an extremer Adipositas. Nur in wenigen Fällen von extremer Adipositas ist eine andere Erkrankung – wie beispielsweise eine Hormonstörung – dafür verantwortlich. Häufig geht die extreme Adipositas bei Jugendlichen mit schweren körperlichen und psychischen Begleiterkrankungen einher, die die Lebensqualität enorm einschränken. Wie andere chronische Erkrankungen verlangt Adipositas ein lebenslanges Krankheitsmanagement – gemeinsam mit Expertinnen und Experten aus der Medizin, den Ernährungswissenschaften, der Psychologie und Pädagogik, Sport- und Verhaltenstherapie.

Jugendliche mit extremer Adipositas – eine besondere Patientengruppe

Ein großer Erfolg, denn trotz der schwerwiegenden Einschränkungen, die eine extreme Adipositas mit sich bringt, seien gerade jugendliche Patientinnen und Patienten medizinisch schwer zu erreichen und zu behandeln, gibt Wabitsch zu bedenken. Nur ein kleiner Prozentsatz der Betroffenen sucht seinen Angaben zufolge aktiv nach einer Behandlung; oft erfahren sie soziale Diskriminierung und haben krankheitsbedingt nur geringe Chancen auf einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz. Dabei besteht dringender Handlungsbedarf: „Wird eine extreme Adipositas im Jugendalter nicht behandelt, besteht ein hohes Risiko für schwerwiegende Folgeerkrankungen bis hin zu einem frühen Tod. Eine Integration in die Gesellschaft ist für diese jungen Personen oft nicht möglich; bei Frauen bestehen zudem erhöhte Risiken für Fehl- und Totgeburten sowie Fehlbildungen ihrer Nachkommen“, so Wabitsch.

Um den Jugendlichen besser helfen zu können, entwickelte das Forschungsteam ein Drei-Phasen-Programm. In Phase eins wurde den Teilnehmenden eine umfassende Untersuchung ihres körperlichen und psychischen Gesundheitszustandes angeboten. In Phase zwei konnten sie an einem drei- bis sechs-monatigen Gruppenprogramm teilnehmen, welches nicht primär das Ziel einer Gewichtsreduktion hatte, sondern die Lebensqualität und Krankheitsakzeptanz verbessern sollte. In Phase drei schließlich wurde den Jugendlichen eine individuelle Therapie vorgeschlagen, die in Einzelfällen bis hin zum chirurgischen Eingriff reichte. Operierte Jugendliche wurden zudem in ein strukturiertes Betreuungsprogramm nach der OP aufgenommen. Wichtigstes Ziel bei all dem: das Selbstwertgefühl der Betroffenen steigern, eine frühzeitige Diagnose und Behandlung von Folgeerkrankungen ermöglichen sowie Unterstützung bei der Suche nach einem Ausbildungs- oder Arbeitsplatz leisten. Eine besondere Herausforderung bestand darin, die Jugendlichen für das medizinische Versorgungssystem zu gewinnen, denn nicht selten bedingen stigmatisierende Erfahrungen, dass diese Hochrisikogruppe Arztbesuche meidet.

Für die Betroffenen bedeutet die neue Versorgungsform einen enormen Fortschritt, denn ein chirurgischer Eingriff kommt nicht für jeden infrage. Eine bariatrische Operation, bei der der Magen verkleinert wird oder mittels eines Bypasses umgangen wird, kann eine deutliche und schnelle Gewichtsreduktion bewirken. Allerdings bleiben mögliche psychologische Ursachen der Adipositas wie eine gestörte Selbstkontrolle beim Essen und gesundheitsgefährdendes Ess- und Bewegungsverhalten nach wie vor bestehen. Gerade bei Jugendlichen ist eine solche Operation nur in seltenen Fällen und bei eingehender vorheriger Aufklärung und nachfolgender Betreuung indiziert – sie kann nach Ansicht von Martin Wabitsch nur eine Ultima Ratio darstellen, auch weil sie selbst mit gra- vierenden Komplikationen und Folgeerkrankungen behaftet ist.

Die „JA“-Studie

Der offizielle Name der „JA“-Studie lautet „Medizinische und psychosoziale Folgen der extremen Adipositas bei Jugendlichen – Akzeptanz und Wirkung einer strukturierten Versorgung“. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) förderte die Studie mit rund vier Millionen Euro. Die möglichen Versorgungswege für Jugendliche und junge Erwachsene mit extremer Adipositas sollen im Rahmen einer deutschsprachigen Arbeit mit dem Titel „Versorgungskonzept für Jugendliche und junge Erwachsene mit Adipositas – erstellt auf der Basis der JA-Studie (BMBF)“ veröffentlicht werden.
An der Studie sind weitere Kliniken beteiligt: LVR-Klinikum Essen (Prof. Hebebrand), Charité – Universitätsmedizin Berlin (Dr. Wiegand), Universitätsklinikum Leipzig (Prof. Kiess), Vestische Kinder- und Jugendklinik Datteln (Prof. Reinehr), das Helmholtz Zentrum München, Neuherberg (Prof. Holle) und die Universität Ulm (Prof. Holl). Statistisch wird die Studie vom Universitätsklinikum Jena betreut (Prof. Scherag).
Weitere Informationen zum Konsortium finden Sie hier.

Enge Kooperation mit Kostenträgern und Jobcentern

An den Ergebnissen der „JA“-Studie haben Jobcenter und Berufsbildungswerke ein hohes Interesse; an den fünf Studienzentren habe sich eine enge Kooperation entwickelt, berichtet Wabitsch. „In einem Netzwerk arbeiten wir mit verschiedenen Einrichtungen zusammen, etwa den Krankenkassen oder den Jobcentern, mit denen die Jugendlichen Kontakt haben. So sind wir in der Lage, ihnen neben der medizinischen Versorgung auch wichtige Kontakte für die Integration in den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt zu vermitteln.“

Auch die Kostenträger profitieren von den Ergebnissen der Studie: „Eben weil es für Jugendliche mit extremer Adipositas kein standardisiertes und Erfolg versprechendes Diagnostik- und Versorgungskonzept gab, haben sich auch die Krankenkassen und die Medizinischen Dienste mit dieser Patientengruppe bislang schwergetan“, sagt Wabitsch. „Das jetzt vorliegende Konzept und die weiteren Ergebnisse aus der „JA“-Studie geben ihnen eine Entscheidungsgrundlage an die Hand, wenn es um die Kostenübernahme von Therapiemaßnahmen geht“, so der Mediziner.

Ansprechpartner und Leiter des Studienzentrums Ulm:

Prof. Dr. med. Martin Wabitsch
Leiter Sektion Pädiatrische Endokrinologie und Diabetologie
Universitätsklinikum Ulm
Klinik für Kinder- und Jugendmedizin Eythstraße 24
89075 Ulm
martin.wabitsch@uniklinik-ulm.de