In den eigenen vier Wänden alt werden - Hausbesuche erhalten Gesundheit und Selbstständigkeit im Alter

Ob Telefonkabel, Teppichkante oder Duschvorleger – in den meisten Wohnungen älterer Menschen wimmelt es von Stolperfallen, ein Sturz ist fast vorprogrammiert. Meist gilt: Gefahr erkannt – Gefahr gebannt. Aber wie soll zum Beispiel ein Arzt in seiner Praxis die häuslichen Probleme älterer Menschen erkennen und helfen, diese zu beheben? Das ist kaum möglich. Hierzu sind Hausbesuche nötig. (Newsletter 55 / Januar 2012)

iStockphotoStolperfallen lauern überall und können ältere Menschen schnell zu Fall bringen. Im Alter so lange wie möglich selbständig sein und zu Hause wohnen, das ist der Wunsch vieler Senioren. Ein Fallbeispiel: Frau Antoni* ist 85 Jahre alt und lebt allein. Die Gelenke schmerzen und die Kräfte lassen nach. Den Haushalt in Ordnung zu halten, sich zu baden und Wege außerhalb der Wohnung zu bewältigen, all dies bereitet ihr immer mehr Mühe. So oder so ähnlich geht es vielen Senioren: Das Leben allein zu Hause wird von Tag zu Tag beschwerlicher. Aber das Pflegeheim ist auch keine Alternative. Denn wie Frau Antoni haben die meisten älteren Menschen den Wunsch, ein weitgehend unabhängiges Leben zu führen. Eine aktuelle vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte Studie hat nun gezeigt, dass Hausbesuche von Pflegefachkräften dazu beitragen können, die Gesundheit und Selbstständigkeit älterer Menschen in den eigenen vier Wänden zu erhalten.

In der Studie wurden mehr als 300 über 80-Jährige zufällig in zwei Gruppen eingeteilt: Die erste Gruppe wurde dreimal zu Hause besucht, die zweite Gruppe diente als Kontrollgruppe und erhielt nur einen Hausbesuch. „Beim ersten Hausbesuch, den wir bei allen Studienteilnehmern durchführten, wurde der Ist-Zustand ihrer Lebens- und Versorgungssituation ermittelt“, beschreiben die Studienleiter Prof. Dr. Steffi Riedel-Heller vom Institut für Sozialmedizin, Arbeitsmedizin und Public Health der Universität Leipzig und Prof. Dr. Johann Behrens vom Institut für Gesundheits- und Pflegewissenschaft an der Universität Halle-Wittenberg. Hier erkannten die Untersucher zum Beispiel bei Frau Antoni, dass ihr das Essen kaum noch schmeckt, weil ihre Zahnprothese locker sitzt, sie Unterstützung im Haushalt und bei der Körperpflege braucht und wegen Schwindelattacken ungern spazieren geht. Beim zweiten Hausbesuch wurden Frau Antoni und die anderen Senioren umfangreich beraten. Sie erhielten Vorschläge zur Verbesserung ihrer Lebens- und Versorgungssituation und – falls nötig – wurden Kontakte zu Hilfe- und Unterstützungsangeboten geknüpft. „Beim dritten Besuch haben wir dann geschaut, inwieweit unsere Vorschläge bereits im Alltag umgesetzt werden konnten und wo noch weitere Veränderungen nötig sind“, erklärt Professor Behrens. Eineinhalb Jahre nach dem ersten Hausbesuch erfassten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Pflegeforschungsverbundes Mitte-Süd den Gesundheitszustand und die Lebenssituation aller Studienteilnehmer und verglichen sie mit der Ausgangssituation.

Das Ergebnis: Bei mehr als der Hälfte der Studienteilnehmer bestand ein erhöhtes Sturzrisiko und vielfach war der Wohnraum nicht altersgerecht angepasst. Durch die Hausbesuche verringerte sich die Zahl der Stürze. Denn Stolperfallen wurden ausfindig und direkt Vorschläge gemacht, wie diese beseitigt werden können. „Meist können so schon mit ganz einfachen Mitteln Stürze verhindert werden“, sagt Professor Riedel-Heller. Auch die Lebensqualität der Senioren verbesserte sich durch die Hausbesuche und ein vorhandener Hilfe- und Unterstützungsbedarf z.B. in den Bereichen Mobilität, Ernährung und Hauswirtschaft konnten frühzeitig erkannt werden.

Essen auf Rädern und Rollator: Kleine Hilfen, große Wirkung

Am Beispiel von Frau Antoni hieß das konkret: Sie kann ihren Alltag nun besser bewältigen. Sie erhält fünfmal pro Woche Essen auf Rädern und sie hat wieder mehr Appetit, ihre Zahnprothese wurde angepasst, bei der Körperpflege und im Haushalt wird sie regelmäßig unterstützt und ein Rollator gibt ihr bei den täglichen Spaziergängen Sicherheit, sie erhält fünfmal pro Woche Essen auf Rädern und regelmäßige Unterstützung bei der Körperpflege und im Haushalt. „Natürlich können die Hausbesuche nicht alle Probleme lösen, aber immerhin hat sich die Versorgung und Mobilität der Dame enorm verbessert“, so Professor Behrens.

Ob die präventiven Hausbesuche auch dazu beitragen können, dass ältere Menschen nicht oder erst später in ein Pflegeheim umziehen müssen, konnten die Forscherinnen und Forscher nicht beweisen. Professor Riedel-Heller: „Wir erkennen zwar einen Trend, dass durch präventive Hausbesuche prozentual weniger alte Menschen ins Heim kommen, aber dieser Effekt ist statistisch nicht signifikant.“ Auch die Frage, ob sich durch präventive Hausbesuche Kosten sparen lassen oder ob zusätzliche Kosten im Gesundheitssystem entstehen, konnte die Studie nicht abschließend beantworten.

Prävention ist die Zukunft

BMBFKlar ist: Derzeit leben in Deutschland mehr als 2,3 Millionen Pflegebedürftige – Tendenz steigend. Bereits im Jahr 2020 soll die Zahl der Pflegebedürftigen Schätzungen zufolge auf 2,9 Millionen anwachsen. „Angesichts dieser Entwicklung steht die Pflege vor großen, neuen gesellschaftspolitischen Herausforderungen. Hierbei werden präventive Maßnahmen, die es älteren Menschen ermöglichen länger in ihrer eigenen Häuslichkeit zu leben und die in Deutschland bislang eher eine untergeordnete Rolle spielen, zunehmend an Bedeutung gewinnen“, prognostiziert Professor Riedel-Heller.

* Name von der Redaktion geändert


Ansprechpartner/-in:

Prof. Dr. Steffi G. Riedel-Heller, MPH
Institut für Sozialmedizin, Arbeitsmedizin und Public Health
Universität Leipzig
Philipp-Rosenthal-Str. 55
04103 Leipzig
Tel.: 0341 97-15408
Fax: 0341 97-15409
E-Mail: steffi.riedel-heller@medizin.uni-leipzig.de

 

Prof. Dr. Johann Behrens
Institut für Gesundheits- und Pflegewissenschaft
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Magdeburger Straße 8
06097 Halle/Saale
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Fax: 0345 557-4471
E-Mail: johann.behrens@medizin.uni-halle.de