Februar 2024

| Newsletter 114

Künstliche Hormone helfen beim Abnehmen

Nur wenigen Patientinnen und Patienten mit Adipositas gelingt es, allein mit Diät und Sport dauerhaft abzunehmen. Eine neue Gruppe von Wirkstoffen, die körpereigene Darmhormone nachahmen, könnte ihnen helfen, ein gesundes Körpergewicht zu erreichen.

Logo DZD

Schon lange sucht die Wissenschaft nach wirksamen und verträglichen Medikamenten, die Menschen mit Adipositas oder Übergewicht beim Abnehmen helfen, doch blieb der Erfolg ebenso lange aus. „Erst als wir erkannten, dass wir das Zentralnervensystem ansteuern müssen, um effektive Medikamente gegen Adipositas zu entwickeln, gelangen uns wichtige Fortschritte“, erklärt Professor Dr. Matthias Tschöp. Der Neuroendokrinologe ist wissenschaftlicher Geschäftsführer von Helmholtz Munich, einem Partner des Deutschen Zentrums für Diabetesforschung (DZD). Zusammen mit Forschungskolleginnen und -kollegen in den USA legte er die Grundlage für die Entwicklung einer neuen Gruppe von Wirkstoffen: im Labor gebildete Moleküle, deren Wirkung natürlichen Hormonen ähnelt. Erstmals ermöglichen sie es stark übergewichtigen Menschen, effektiv abzunehmen.

Dual-Agonisten binden an zwei Rezeptoren.

Dual-Agonisten binden an zwei Rezeptoren.

DZD/Timo Müller

Polyagonisten und ihre Wirkung im Gehirn

Die neue Wirkstoffgruppe ahmt die Wirkung zweier Darmhormone sowie des in der Bauchspeicheldrüse gebildeten Hormons Glukagon nach: Die Wirkstoffe reduzieren den Appetit, verstärken das Sättigungsgefühl und fördern unter anderem den Fettabbau. Sie sind in der Lage, an bestimmte Rezeptoren im Gehirn zu binden und ähnliche Effekte wie die körpereigenen Hormone auszulösen. Sie werden deshalb als Rezeptoragonisten bezeichnet. Aktivieren sie mehrere Rezeptoren, spricht man von Polyagonisten.

Basierend auf diesem innovativen Konzept wurde das Medikament Tirzepatide entwickelt, ein dualer (Zweifach-)Rezeptoragonist, der an die Rezeptoren der Darmhormone GLP-1 und GIP binden kann. In klinischen Studien senkte es das Körpergewicht bei regelmäßiger Einnahme um durchschnittlich 22 Prozent, also um weitaus mehr als jede bisherige sichere Behandlung mit Medikamenten. Weil es darüber hinaus eine deutliche Verbesserung der Insulin-Sensitivität bewirkt und den Blutzuckerspiegel senkt, ist es in den USA und seit Herbst 2022 auch in der EU für die Therapie von Typ-2-Diabetes zugelassen. Eine Zulassung zur Behandlung der Adipositas wurde beantragt.

Die Grafiken zeigen das Funktionsprinzip von Dual- und Triple-Agonisten. Der GLP1/GIP-Dual-Agonist kann an den GLP1-Rezeptoren und GIP-Rezeptoren binden

Die Grafik zeigt das Funktionsprinzip von Dual-Agonisten. Der GLP1/GIP-Dual-Agonist kann an den GLP1-Rezeptoren und GIP-Rezeptoren binden.

DZD/Timo Müller

Die Grafiken zeigen das Funktionsprinzip von Dual- und Triple-Agonisten. Der GLP1/GIP/Glukagon-Triple-Agonist kann an GLP1-Rezeptoren, GIP-Rezeptoren und Glukagon-Rezeptoren binden.

Die Grafik zeigt das Funktionsprinzip von Triple-Agonisten. Der GLP1/GIP/Glukagon-Triple-Agonist kann an GLP1-, GIP-und Glukagon-Rezeptoren binden. 

DZD/Timo Müller

Forschende des DZD um PD Dr. Timo Müller von Helmholtz Munich haben den zugrunde liegenden Wirkmechanismus entschlüsseln können: Tirzepatide stimuliert die Insulinausschüttung in der menschlichen Bauchspeicheldrüse vorwiegend über den GIP-Rezeptor. „Dass der GIP-Rezeptor für den gewichtsreduzierenden Effekt von Bedeutung ist, konnten wir bereits in präklinischen Studien bestätigen“, so Müller. „Ob dies auch für den Menschen zutrifft, muss aber erst noch bestätigt werden.“

Noch effektiver als duale Agonisten wie Tirzepatide könnten Wirkstoffe sein, die alle drei Hormone in einem Molekül kombinieren. Ein Dreifach-Agonist, der im Gehirn an die Rezeptoren von GLP-1, GIP und Glukagon binden kann, befindet sich in der Entwicklung. „Erste Daten deuten darauf hin, dass seine Wirksamkeit die von Tirzepatide noch übertreffen könnte“, berichtet Matthias Tschöp. „Vielen Menschen mit Adipositas könnte es damit künftig möglich sein, ihr Körpergewicht zu normalisieren.“

Professor Dr. Matthias Tschöp

Professor Dr. Matthias Tschöp

Matthias Tunger Photodesign

Allerdings gilt es bei der Anwendung der neuen Medikamente einiges zu beachten. Es handelt sich bei ihnen immer um eine zusätzliche Therapie, die mit gesunder, kalorienreduzierter Ernährung sowie ausreichend Bewegung kombiniert werden sollte. Erste Erfahrungen zeigen zudem, dass es sich bei den Polyagonisten voraussichtlich um eine Dauertherapie handeln wird, das heißt, nach dem Absetzen steigt das Gewicht vieler Patientinnen und Patienten wieder an.

Deshalb ist es wichtig, dass die neue Wirkstoffgruppe der Polyagonisten gut verträglich ist und keine schweren Nebenwirkungen auftreten. Das scheint nach aktuellem Kenntnisstand der Fall zu sein. In den wissenschaftlichen Studien entwickelte ein Großteil der Patientinnen und Patienten Magen-Darm-Beschwerden; vor allem Übelkeit und Erbrechen waren häufig. Diese Nebenwirkungen waren im Allgemeinen jedoch nur leicht bis mäßig ausgeprägt und ließen mit der Zeit nach.

Hohe Auszeichnung für Matthias Tschöp

Als erster Deutscher wurde Professor Dr. Matthias Tschöp 2023 mit der höchsten Auszeichnung der American Diabetes Association (ADA) geehrt. Für seine Durchbrüche auf den Gebieten der Adipositas- und Diabetesbehandlung erhielt er die Banting Medal for Scientific Achievement. Sie ist nach dem Nobelpreisträger und Entdecker des Insulins, Frederick Banting, benannt.

Tschöp ist wissenschaftlicher Geschäftsführer und CEO bei Helmholtz Munich und Humboldt-Professor an der Technischen Universität München (TUM). Helmholtz Munich ist ein biomedizinisches Spitzenforschungszentrum und Teil von Helmholtz Health, einem europaweit einmaligen Verbund, der Lösungen für eine gesündere Gesellschaft entwickelt. Interdisziplinäre Forschungsteams fokussieren bei Helmholtz Munich auf umweltbedingte Krankheiten, insbesondere die Therapie und die Prävention von Diabetes, Adipositas, Allergien und chronischen Lungenerkrankungen. Mittels künstlicher Intelligenz und Bioengineering transferieren die Forschenden ihre Erkenntnisse schneller zu den Patientinnen und Patienten.

Weitere Informationen:
www.helmholtz-munich.de

Hoffnung auf eine neue Ära in der Adipositasmedizin

Forschende setzen besondere Hoffnung in die Polyagonisten, denn die neuen Multi-Rezeptor-Medikamente könnten das Potenzial haben, eine neue Ära in der Adipositasmedizin einzuleiten. Mehr als zehn weitere Polyagonisten befinden sich derzeit in der klinischen Prüfung. Erstmals könnte die Volkskrankheit Adipositas damit umfänglich und effektiver denn je behandelt und damit das Risiko deutlich reduziert werden, an Diabetes zu erkranken.

Originalpublikationen:
Jastreboff, A. M., Aronne, L. J., Ahmad, N. N., et al. (2022). Tirzepatide Once Weekly for the Treatment of Obesity. The New England Journal of Medicine, N Engl J Med 2022; 387:205-16. DOI: 10.1056/NEJMoa2206038

El, K., Douros, J. D., Willard, F. S., et al. (2023). The incretin co-agonist tirzepatide requires GIPR for hormone secretion from human islets. Nature Metabolism 2023; 5: 945−954. DOI: 10.1038/s42255-023-00811-0

Jastreboff, A. M., Kaplan, L. M., Frías, J. P., et al. (2023). Triple-Hormone-Receptor Agonist Retatrutide for Obesity − A Phase 2 Trial. The New England Journal of Medicine, N Engl J Med 2023 Jun 26; DOI: 10.1056/NEJMoa2301972

Deutsches Zentrum für Diabetesforschung e. V. (DZD)

Das DZD ist eines der Deutschen Zentren der Gesundheitsforschung, die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und von den Sitzländern gefördert werden. Es bündelt Kompetenzen auf dem Gebiet der Diabetesforschung und verzahnt Grundlagenforschung, Epidemiologie und klinische Anwendung. Ziel des DZD ist es, über einen neuartigen, integrativen Forschungsansatz einen wesentlichen Beitrag zur erfolgreichen, maßgeschneiderten Prävention, Diagnose und Therapie des Diabetes mellitus zu leisten. Mitglieder des Zentrums sind Helmholtz Munich, das Deutsche Diabetes-Zentrum (DDZ) in Düsseldorf, das Deutsche Institut für Ernährungsforschung (DIfE) in Potsdam-Rehbrücke, das Institut für Diabetesforschung und Metabolische Erkrankungen des Helmholtz Zentrums München an der Eberhard Karls Universität Tübingen und das Paul Langerhans Institut des Helmholtz Zentrums München am Universitätsklinikum Carl Gustav Carus der TU Dresden. Darüber hinaus gibt es assoziierte Partner an den Universitäten in Heidelberg, Köln, Leipzig, Lübeck und München sowie weitere Projektpartner.
Weitere Informationen:
www.dzd-ev.de

Ansprechpartner:
Prof. Dr. med. Dr. h.c. Matthias H. Tschöp
CEO und Wissenschaftlicher Geschäftsführer von Helmholtz Munich
Campus Neuherberg
Ingolstädter Landstraße 1
85764 Neuherberg
E-Mail: ceo@helmholtz-munich.de

Pressekontakt:
Birgit Niesing
Deutsches Zentrum für Diabetesforschung (DZD)
Ingolstädter Landstraße 1
85764 Neuherberg
E-Mail: niesing@dzd-ev.de