Februar 2019

| Newsletter 93

Lecithin: Heilsam bei einer Nervenkrankheit?

Lecithin ist ein natürlicher Bestandteil unserer Nahrung und ein wichtiger Baustein in unserem Nervensystem. Aktuelle Studienergebnisse legen nun nahe, dass eine lecithinreiche Ernährung Menschen mit dem schweren Nervenleiden „Charcot-Marie-Tooth“ helfen könnte.

Blick auf eine Menschenmenge von hinten.

Die Charcot-Marie-Tooth-Krankheit gehört zu den Seltenen Erkrankungen. Eine Erkrankung gilt dann als selten, wenn sie nicht mehr als fünf von 10.000 Menschen betrifft.

5xinc/Thinkstock

Lecithin ist ein natürlicher Fettstoff, der beispielsweise reich in Ei-Dottern, Sojabohnen oder Lammfleisch enthalten ist. Für den menschlichen Körper ist Lecithin bedeutsam, denn es ist ein wichtiger Bestandteil von Zellen und relevant für unser Nervensystem. Eine besondere Rolle scheint es für eine gut funktionierende Weitergabe von Nerven-Signalen zu spielen. Denn Lecithin trägt dazu bei, dass Nervenfasern isoliert werden. Die elektrischen Nervenimpulse können hierdurch schnell und effektiv weitergeleitet werden. Eben diese Signalweitergabe scheint bei einer seltenen Erkrankung, der „Charcot-Marie-Tooth“-Krankheit (CMT) beeinträchtigt zu sein, was schwere Krankheitssymptome hervorruft. Neue Forschungsergebnisse bieten nun einen vielversprechenden Behandlungsansatz. „Wir konnten erstmals an Nagetieren zeigen, dass Lecithin die Isolierung und Funktion von beeinträchtigten Nervenzellen wieder verbessert“, sagt Professor Sereda von der Klinik für Klinische Neurophysiologie der Universitätsmedizin Göttingen und dem Max-Planck-Institut für Experimentelle Medizin. „Unsere Ergebnisse könnten für Patientinnen und Patienten mit der Charcot-Marie-Tooth-Krankheit ein echter Durchbruch sein und eine allererste Behandlungsoption eröffnen.“ Sereda koordiniert diese Arbeiten im deutschlandweit einzigarten Forschungsverbund „CMT-NET“, der durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wird.

Die Menschen hinter der Forschung: Das Charcot-Marie-Tooth-Netzwerk „CMT-NET“

Das Bundesministerium für Bildung und Forschung fördert seit 2016 das Charcot-Marie-Tooth-Netzwerk „CMT-NET“ mit insgesamt 2.7 Millionen Euro. Sechs Forschungszentren aus ganz Deutschland arbeiten hierbei zusammen: die Universitätsklinika in Aachen, Göttingen, München, Münster und Würzburg und das Max-Planck-Institut für Experimentelle Medizin in Göttingen. Ziel ist es, die Ursachen, Verbreitung und Behandlungsmöglichkeiten der Erkrankung zu erforschen, damit Betroffene und ihre Angehörigen eine optimale Hilfe erhalten. Hierzu werden Risikofaktoren analysiert, Biomarker erforscht sowie therapeutische Optionen getestet. Einmalig ist zudem eine neue Meldestruktur, das CMT Patientenregister, das als Servicestruktur innerhalb des CMT-NET fungiert: Hier können sich Betroffene registrieren, so dass Daten und Wissen über diese seltene Erkrankung deutschlandweit gebündelt werden können. Knapp 1.400 Menschen haben dies bereits genutzt.

Die Charcot-Marie-Tooth-Krankheit - bislang nicht heilbar

CMT betrifft etwa 30.000 Menschen in Deutschland und rund zwei Millionen Menschen weltweit. Die Erkrankung bewirkt eine fortschreitende Schädigung von Nervenzellen in der Körperperipherie. Die Symptome sind oft schwerwiegend. Betroffene haben nicht selten bereits als Kind Fehlbildungen der Füße und Schwierigkeiten beim Gehen oder bei anderen Bewegungen. Später treten Empfindungsstörungen in Armen und Beinen auf, wie Taubheit, Kribbeln oder Schmerzen. Schließlich nimmt die Kraft der Muskeln zunehmend ab und in seltenen Fällen sind Betroffene auf einen Rollstuhl angewiesen. Der Mechanismus, der dieser Erkrankung zugrunde liegt, ist bis heute nicht geklärt. Ärztinnen und Ärzte können daher die Charcot-Marie-Tooth-Krankheit nicht heilen, sondern nur ihre Symptome mildern.

Schematische Darstellung der Myelinschicht

Schematische Darstellung der Myelinschicht. Oben: Bei einem gesunden Nervensystem umwickeln Schwann-Zellen (in blau) in der Körperperipherie die Fortsätze von Nervenzellen mit einer isolierenden Myelinscheide. Elektrische Nervenimpulse können so besonders schnell weitergeleitet werden. Unten: Bei der häufigsten Form der Charcot-Marie-Tooth-Krankheit sind viele Bereiche der Nervenfaser nicht korrekt von Schwann-Zellen mit Myelin ummantelt, was die Signalweitergabe deutlich verlangsamt.

Dr. Robert Fledrich, Universität Leipzig

Dem Krankheitsmechanismus auf der Spur

„Wir wissen, dass die meisten Betroffenen eine Gen-Auffälligkeit haben, in diesem Fall die Verdopplung des Gens für PMP22. Nun konnten wir Nagetiere mit diesem Gen-Defekt untersuchen, die ähnliche Symptome aufweisen. Wir fanden heraus, dass diese Tiere einen gestörten Fettstoffwechsel haben und die sogenannte Myelinschicht der Nervenfasern nicht richtig ausbilden“, erklärt Sereda. Die Myelinschicht ist sehr fettreich und diejenige Struktur, die die Fortsätze von Nervenzellen elektrisch isoliert. „An dieser Stelle kam uns ein einfacher Gedanke: Der natürliche Stoff Lecithin ist ein Hauptbestandteil der Myelinschicht. Womöglich könnte er Heilung bringen“, sagt Dr. Fledrich, der bei diesem Projekt eng mit Sereda zusammengearbeitet hat und mittlerweile an der Universität Leipzig tätig ist. Die Forschenden gaben betroffenen Tieren daraufhin eine lecithinreiche Kost. In mehreren aufeinanderfolgenden Studien konnten sie sodann zeigen, dass dies die Myelinschicht wieder aufbaut und maßgeblich Besserung bringt. Zudem war Lecithin in verschiedenen Stadien der Erkrankung wirksam, sowohl zu einem sehr frühen Zeitpunkt der Erkrankung, an dem sich noch kaum Symptome zeigten, als auch zu einem Zeitpunkt, an dem die Erkrankung bereits ausgebildet war.

Myelinschicht

Die Myelinschicht (oder auch Markscheide) ist eine fettreiche Schicht, die bei Menschen und Wirbeltieren die Nervenfortsätze bestimmter Nervenzellen umgibt. Sie wird in der Körperperipherie von sogenannten Schwann-Zellen gebildet, die sich spiralförmig um den Nervenfortsatz winden. Hierdurch wird der Nervenfortsatz elektrisch isoliert, so dass Nervenimpulse besonders schnell weitergeleitet werden können. Außerdem schützt die Myelinschicht den Nervenfortsatz vor mechanischen Schäden. Ist diese Schicht nicht mehr ausreichend vorhanden, kommt es zu einer verminderten Funktion bis hin zu einer Degeneration von Nerven-Verbindungen.

Lecithin als Therapeutikum?

„Wir wissen bereits, dass Lecithin für Menschen gut verträglich ist. Als Nahrungsergänzungsmittel ist es bereits heute frei verfügbar“, fährt Fledrich fort. Ob Betroffene der Charcot-Marie-Tooth-Krankheit hiervon profitieren, ist aber noch nicht geklärt. „Unser Ziel ist es, dies in Zukunft durch eine Klinische Studie systematisch zu untersuchen. Wenn wir Erfolg haben, wäre dies ein echter Meilenstein für die Patientinnen und Patienten und ihre Angehörigen weltweit“, sagt Sereda und ergänzt: „Zudem wäre es dann sehr interessant zu prüfen, ob dieser Mechanismus auch für andere Nervenerkrankungen bedeutsam ist.“

Ob Lecithin bei gesunden Menschen die Leistungsfähigkeit von Nervenzellen verbessert, stellen die Wissenschaftler infrage. „Wir halten das für nicht wahrscheinlich“ , so Sereda und Fledrich. Die alten Bekannten seien hier wohl vielversprechender: ausreichend Schlaf, regelmäßige Bewegung und eine abwechslungsreiche, gesunde Ernährung.

Am 28.2. 2019 ist Rare Disease Day!

Der Tag der seltenen Erkrankungen erinnert uns an unsere Verpflichtung, auch den Menschen zu helfen, die eine unzulänglich erforschte oder bisher nicht heilbare seltene Erkrankung haben. Allein in Deutschland betrifft dies insgesamt rund 3-4 Millionen Menschen.

Die Erforschung der Grundlagen seltener Erkrankungen sowie die Entwicklung innovativer Therapien ist ein gesamtgesellschaftlicher Auftrag. Das BMBF unterstützt daher in einer vierten Förderperiode 2019-2022 wieder mehrere deutschlandweit vernetzte Forschergruppen mit einer Gesamtsumme von 25 Mio. Euro und fördert zusätzlich die internationale Vernetzung der Forschung mit weiteren 2,7 Mio. Euro.

Mehr Informationen:

Research for Rare - Forschung für seltene Erkrankungen

BMBF - Seltene Erkrankungen
 

Ansprechpartner:
Prof. Dr. Michael W. Sereda
Klinik für Klinische Neurophysiologie
Universitätsmedizin Göttingen
Robert-Koch-Str. 40
37075 Göttingen
mwsereda@med.uni-goettingen.de