September 2022

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„Modelle zwingen uns zur Klarheit“, Interview mit Dr. Viola Priesemann

In der Pandemie lieferte ihre Arbeit wertvolle Grundlagen für die Corona-Politik. Zugleich stand Physikerin Dr. Viola Priesemann plötzlich im Fokus der Öffentlichkeit. Ein Gespräch über die Aussagekraft von Modellen und den Einfluss virtueller Stammtische.

Dr. Viola Priesemann

Dr. Viola Priesemann

MPIDS/Peter Heller

Seit Beginn der Corona-Pandemie zählen Sie zu den Forschenden, an deren Modellen sich die Politik bei der Bekämpfung des Virus orientiert. Derzeit sind Sie Mitglied im Corona-ExpertInnenrat der Bundesregierung. Welchen Beitrag kann Ihre Arbeit zur Bekämpfung einer Pandemie leisten?

Zunächst muss man ganz klar trennen zwischen dem, was die Politik und dem, was die Wissenschaft leistet. Wir als Forschende versuchen, die Wissensgrundlage für politisches Handeln zu liefern. Mit unseren theoretischen Berechnungen und Modellen können wir zum Beispiel „Wenn-Dann“-Szenarien entwerfen: Wenn man die eine oder andere Handlungsoption wählt, was ist dann im weiteren Verlauf der Pandemie zu erwarten? Doch die Güterabwägung liegt dann selbstverständlich in den Händen der Politik.

Was machen Sie genau als Modelliererin?

Modelle sind immer eine Vereinfachung der Welt. Beim Modellieren komplexer Systeme muss zuerst die Frage klar definiert werden. Zum Beispiel: Wie gut wirkt das Testen? Oder wie schnell kann man mit fortschreitender Impfquote die Schutzmaßnahmen lockern? Jede dieser Fragen benötigt im Zweifel ein eigenes, spezifisches Modell. Danach identifizieren wir die Faktoren, die wir unbedingt brauchen, um etwa bestimmte Eigenschaften der Ausbreitung des Corona-Virus darzustellen. Die weniger wichtigen Faktoren lassen wir raus. Wenn man innerhalb des Modells eine gute Balance zwischen Vereinfachung und Komplexität trifft, kann es gelingen, grundlegende Eigenschaften des echten Systems zu verstehen. Die Komplexität der Welt so herunterzubrechen, dass wir sie besser beschreiben können, als das mit Worten allein möglich wäre, ist die große Herausforderung in meinem Beruf. Die Modelle zwingen uns zur Klarheit.

Können Sie ein konkretes Beispiel aus der Corona-Zeit nennen?

Für die Berechnung eines Modells brauchen wir Zahlen. Wenn ich diese Zahlen habe und die damit verbundenen Unsicherheiten berücksichtige, bekomme ich am Ende möglicherweise hilfreiche Ergebnisse. Beispielsweise im Herbst 2021: Wir wussten, dass viele Personen bereits geimpft waren. Zugleich war klar, dass die Impfung sehr gut gegen schwere Verläufe schützt, aber der Schutz gegen Ansteckung mit der Zeit nachgelassen hatte. Diese Informationen ließen wir in die Modelle einfließen. So konnten wir auf Basis des Wissens über die Immunität in der Bevölkerung zeigen: Ein harter Lockdown ist nicht notwendig, wenn wir etwa eine Million Menschen pro Tag impfen. Und das ist gelungen. Wir haben im Winter 2021/22 zwar Vorsichtsmaßnahmen gebraucht, aber keinen Lockdown oder gar Distanzunterricht. Aber es hängt natürlich von den politischen Entscheidungen ab, ob es gelingt, schnell genug zu impfen und ob die Bevölkerung das auch entsprechend annimmt.

Hatten Sie vor Corona schon mit Infektionskrankheiten zu tun?

Der eigentliche Schwerpunkt meiner Arbeit liegt auf der Ausbreitung von Information und Aktivität in neuronalen Systemen. Hierbei beschäftigt mich etwa die Frage, wie die 80 Milliarden Nervenzellen im menschlichen Gehirn es schaffen, sich so zu koordinieren, dass Gedanken entstehen. Hier ist die Dunkelziffer riesig. Von den Milliarden Neuronen im menschlichen Gehirn können wir nur rund 1.000 messen, und wir wollen trotzdem wissen, wie sich Aktivität und Information ausbreiten. Dafür haben wir sehr nützliche Methoden entwickelt, die auch für Modelle zur Ausbreitung von Pandemien sehr hilfreich sind. Denn auch hier gibt es eine gewisse Dunkelziffer.

Was war für Sie die größte Herausforderung in der Corona-Pandemie?

Es sind tagtäglich neue Zahlen reingekommen. Und es gab viele Unsicherheiten. Die Geschwindigkeit, mit der die Wissenschaft zusammengearbeitet hat, um dieses ganz große Rätsel „Corona“ umfassend zu lösen, war schon enorm. Gerade im Sommer 2020 war es eine sehr spannende Zeit, weil sich alle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler derart engagiert eingebracht haben und mit einer beeindruckenden Geschwindigkeit Ergebnisse generieren konnten.

Was bringt vor diesem Hintergrund das neue Modellierungsnetzwerk, das das Bundesforschungsministerium fördert, um den wissenschaftlichen Austausch zu unterstützen?

Der Austausch zwischen den Modelliererinnen und Modellierern ist sehr wichtig, weil jeder etwas andere Ansätze verfolgt und verschiedene Methoden verwendet. Im Idealfall liefern alle Ansätze ein konsistentes Ergebnis. Das wäre dann eine sehr gute Bestätigung. In unserem Konsortium beschäftigen wir uns mit der sogenannten Infodemie. Das ist ein Begriff, den die Weltgesundheitsorganisation WHO im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie geprägt hat. Er beschreibt das Problem, dass man in dieser Krise mit extrem vielen Informationen konfrontiert ist, von wissenschaftlichen Ergebnissen über Meinungen bis hin zu Spekulationen und Desinformation. Wir wollen quantifizieren, wie groß der Einfluss der Infodemie auf die Verbreitung des Virus war.

Vereinte Modellierungskompetenz

Die vergangenen Jahre haben eindrücklich gezeigt, wie wichtig Modellrechnungen sind, um die Entwicklung einer Pandemie vorherzusagen und abzuschätzen, welche Maßnahmen hilfreich sein könnten. Diese Kompetenz will das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) mit einem Modellierungsnetzwerk zur Ausbreitung schwerer Infektionskrankheiten weiter stärken. Ziel ist es, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit dem Forschungsschwerpunkt Modellierung untereinander zu vernetzen sowie die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit relevanten Fachdisziplinen wie Virologie und Epidemiologie zu intensivieren. Das Modellierungsnetzwerk soll dazu beitragen, sowohl bei der gegenwärtigen Pandemie als auch zukünftig bei anderen Infektionsgeschehen möglichst gut aufgestellt zu sein. Zum Modellierungsnetzwerk zählen sieben Verbünde und eine Koordinierungsstelle. Das BMBF fördert das Netzwerk bis 2025 mit insgesamt rund 15,4 Millionen Euro.

Sind diese Aspekte bislang zu wenig berücksichtigt worden?

Das Verhalten der Menschen ist das A und O. Die öffentliche Meinung und das Wissen beeinflussen am Ende auch die gesetzlichen Vorgaben. Man kann schließlich keine Vorschriften machen, an die sich niemand halten möchte. Dann erodiert das Vertrauen in das System. Es ist daher allen bewusst, wie wichtig das Thema ist. Es quantitativ anzugehen, ist allerdings eine echte Herausforderung. Möglich wird das durch die großen Datensätze auf Twitter, Reddit und den klassischen Nachrichtenplattformen. So können wir beispielsweise untersuchen, wie sich Fake News verbreiten. Und wir können quantifizieren, wie das mit der Virus-Ausbreitung und -Eindämmung korreliert. Dank der Daten aus den sozialen Medien sitzen wir quasi mit am Stammtisch.

In der Pandemie standen Sie als Wissenschaftlerin plötzlich stark im Fokus der Öffentlichkeit. Wie haben Sie das erlebt?

Es war natürlich erst mal eine Ehre, in so einer Situation einen Beitrag leisten zu können. Als die allerersten Fälle in Europa aufgetreten sind, war schnell klar, dass COVID-19 auch für Deutschland ein Problem wird. Von diesem Zeitpunkt an sind wir sofort mit der Modellierung in das Thema eingestiegen. Ich habe für ein paar Monate von sechs Uhr morgens bis Mitternacht durchgearbeitet, sieben Tage die Woche. Die täglichen Updates mussten sofort in die Modelle einfließen, damit sie besser wurden. Es war sehr arbeitsintensiv, aber auch sehr spannend, und man hatte vor allem das Gefühl, etwas beitragen zu können und nicht einfach nur zu Hause herumzusitzen und zu hoffen, dass es irgendwann vorbeigeht. Der zweite Teil, den ich erlebt habe, war, dass ich als Modelliererin immer wieder die Überbringerin der schlechten Nachrichten war. Da wird man natürlich teils auch mit Anfeindungen konfrontiert. Das geht auch an mir nicht spurlos vorbei. Ich würde mir sehr wünschen, dass wir einen objektiveren und respektvolleren öffentlichen Diskurs hätten, der weniger polarisiert und mehr nach dem „Wie viel“, „Warum“ und „Unter welchen Umständen“ fragt. 

Was wünschen Sie sich noch für den Umgang mit künftigen Pandemien?

Ich hoffe, dass wir in Deutschland auch weiterhin auf eine so starke Wissenschaftscommunity bauen können, die alles stehen und liegen lassen kann, um die Probleme anzugehen. Ich hoffe, dass wir weiterhin diese Freiheiten haben. Ich würde mir zudem eine wesentlich bessere europäische Koordination bei der Datenermittlung und -vereinheitlichung sowie beim Pandemiemanagement wünschen. Das fängt schon bei der Datenbereitstellung an. Wenn jedes Land sein eigenes Datenformat hat und unterschiedliche Altersgruppierungen verwendet, erschwert das unsere Arbeit erheblich.

Was empfehlen Sie für den Herbst?

Das Virus wird nicht einfach wieder verschwinden. Wir wissen, dass die Immunität gegen Ansteckung innerhalb weniger Monate nachlässt. Das heißt, neue Wellen werden kommen. Wie hoch sie werden und wie stark sie das Gesundheitssystem belasten, hängt von der Virusvariante ab und von unserem Verhalten. Im endemischen Zustand liegt es immer noch in unserer Hand, wie häufig sich jede Person ansteckt und wie gut gerade vulnerable Personen geschützt werden. Hier muss die Gesellschaft entscheiden, wie viel Vorsicht man in Zukunft walten lassen möchte.

Vielen Dank für das Gespräch!