September 2019

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Neuroblastome: Neue Erkenntnisse ermöglichen präzisere Therapie

Das Neuroblastom gehört zu den häufigsten Krebsformen im Kindesalter. Die Behandlung wurde bislang dadurch erschwert, dass sich der Krankheitsverlauf nicht optimal vorhersehen ließ. Dank digitaler Analysemethoden ist das nun möglich.

Arzt spricht im Krankenzimmer zu Kind mit rosafarbenem Kopftuch.

Etwa jeder zehnte bösartige Tumor im Kindesalter ist ein Neuroblastom.

FatCamera/iStock

Zellen haben einen eigenen Mechanismus, um ihr Alter zu messen: Ein kleiner Bereich des Erbguts, die Telomere, wird mit jeder Zellteilung kürzer. Unterschreiten die Telomere nach zahlreichen Teilungen eine bestimmte Größe, stirbt die Zelle oder stellt zumindest ihr Wachstum ein. Nur bei wenigen Zellformen ist dieser Mechanismus außer Kraft gesetzt, bei Stammzellen oder bestimmten Zellen des Immunsystems etwa. Diese Zellen sind dadurch nahezu unsterblich. Viele Krebszellen stabilisieren ihre Telomere ebenfalls und können sich deshalb uneingeschränkt weiter teilen.

Neuroblastome sind Tumore des peripheren Nervensystems. Die bösartige Krebserkrankung, die vor allem im frühen Kindesalter auftritt, verläuft sehr unterschiedlich. Während sich die Tumore bei einigen Kindern auch ohne eine Behandlung komplett zurückbilden, können andere Erkrankte trotz einer intensiven Chemotherapie nicht geheilt werden. Um die Behandlung individuell anzupassen, ist es daher enorm wichtig, möglichst genaue Vorhersagen zum Verlauf der Erkrankung zu treffen. Dafür untersuchten Forschende aus Köln, Heidelberg und Berlin im Rahmen der Forschungskonsortien SMOOSE („Systemische Analyse von Modulatoren der onkogenen Signalübertragung“) und SYSMed-NB („Systemmedizin zum Neuroblastom“) das Erbgut von mehr als 400 Kindern, die an Neuroblastomen erkrankt waren. Um einen Vergleich von derart großen Datenmengen möglich zu machen, entwickelten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dafür zunächst eine eigene Computer- und Dateninfrastruktur.

Chromosom und Telomere

Bei der Zellteilung wird das Erbgut in Form von Chromosomen dicht gepackt. Die Telomere (braun) bilden die Enden der Chromosomen.

wildpixel/iStock

Ihre Analysen ergaben, dass bei knapp 20 Prozent der betroffenen Kinder Veränderungen in Ras- und p53-Genen vorlagen. Veränderungen in diesen Genen wurden bereits für zahlreiche andere Krebserkrankungen beschrieben. Sie spielen bei der Krebsentstehung eine zentrale Rolle. Die Untersuchungen der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ergaben, dass bei Neuroblastomen insbesondere Kinder mit schweren Krankheitsverläufen diese Genveränderungen aufwiesen. Doch es gab auch Ausnahmen: Auch bei einigen der Kinder, deren Tumore von selbst wieder verschwanden, lagen diese Genveränderungen vor. „Um diesen scheinbaren Widerspruch zu verstehen, haben wir die Ergebnisse unserer genetischen Analysen mit Informationen über die Telomerstabilisierung kombiniert“, erläutert Professor Matthias Fischer, Leiter der Experimentellen Pädiatrischen Onkologie an der Uniklinik Köln. Dieser Ansatz brachte den Durchbruch. Die Forschenden konnten nachweisen, dass die Stabilisierung der Telomere für den weiteren Krankheitsverlauf dieser Kinder entscheidend ist. Verkürzten sich die Telomere auch weiterhin mit jeder Zellteilung, so brauchten die Kinder trotz Vorliegen der beschriebenen Genveränderungen keine oder nur eine milde Chemotherapie, um geheilt zu werden. „Dank dieser Erkenntnis können wir den Krankheitsverlauf wesentlich besser vorhersagen und die Therapie besser anpassen. Einigen Kindern können wir zukünftig eine hochdosierte Chemotherapie ersparen und sie somit vor den damit einhergehenden schweren Nebenwirkungen bewahren“, führt Fischer aus.

Die Ergebnisse sind aber auch für die Forschung weiterhin von großem Interesse: Der Mechanismus, über den Krebszellen ihre Telomere stabilisieren, könnte als Ansatzstelle für neue Therapieoptionen dienen. Ließe sich dieser Mechanismus beispielsweise durch Arzneistoffe gezielt ausschalten, so könnten davon auch Kinder mit bislang schwer zu behandelnden Krankheitsverläufen profitieren.

Systemmedizin – neue Chancen in Forschung, Diagnose und Therapie

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Ob ein Mensch erkrankt oder nicht, hängt von vielen unterschiedlichen Faktoren ab. Aufgabe der Systemmedizin ist es, das komplexe Zusammenspiel dieser Faktoren umfassend und mithilfe von computergestützten Analysen zu entschlüsseln. Dafür arbeiten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den Lebenswissenschaften und der klinischen Forschung, der Informatik und der Mathematik eng zusammen. Ihre Erkenntnisse bereiten den Weg für frühere Diagnosen, präzisere Therapien und eine wirkungsvollere Vorbeugung.

Das Bundesministerium für Bildung und Forschung unterstützt die Arbeit der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unter anderem durch das Forschungs- und Förderkonzept „e:Med – Maßnahmen zur Etablierung der Systemmedizin“. Seit Ende 2012 stellt das Forschungsministerium dafür – zunächst für acht Jahre – 200 Millionen Euro bereit.

Ansprechpartner:
Prof. Matthias Fischer
Universitätsklinik Köln
Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin
Kerpener Straße 62
50937 Köln
matthias.fischer@uk-koeln.de