September 2019

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Psychotherapie online – digitale Hilfe bei seelischer Belastung

Ein vom BMBF gefördertes Forschungsprojekt untersucht, ob eine webbasierte psychotherapeutische Begleitung dazu beitragen kann, dass Patientinnen und Patienten mit chronischen Rückenschmerzen weniger seelisch belastet sind.

Digitale Gesundheitsangebote gibt es schon viele. Sei es die Armbanduhr, die Schritte zählt oder die App im Smartphone, mit der ein Tagebuch über Kopfschmerzen geführt werden kann. Auch im psychotherapeutischen Bereich könnten digitale Angebote zukünftig eine wirksame, niederschwellige Hilfe sein. Denn manchen Menschen fällt es leichter, an ihrem Computer nach Hilfe zu suchen, als den Gang zu einem Psychotherapeuten oder Psychiater anzutreten.

Psychotherapeutische Hilfe über Computer, Tablet und Smartphone

Erste Befunde zeigen, dass solche digitalen Hilfsangebote erfolgreich sein können – wenn sie geprüft und von hoher professioneller Qualität sind. Meist handelt es sich hierbei nicht um alleinstehende Programme, sondern die Teilnehmenden werden auch durch Psychotherapeutinnen und -therapeuten online begleitet. Diese stehen oft auch für dringenden Rat und Hilfe zur Verfügung.

Screenshot vom online-Programm eSano RückCARE

Einführung in ein neues Thema des Online-Programms (eSanoBack-Care-D-Screenshot)

Das Projekt „WARD-BP“, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert wurde, hat speziell für Patientinnen und Patienten mit chronischen Rückenschmerzen und depressiven Beschwerden ein solches Programm entwickelt. Es soll den Betroffenen helfen, mit psychischen Belastungen durch die Erkrankung besser leben zu können. „Rückenschmerzen sind immer noch die Volkskrankheit Nummer eins“, sagt Professor Dr. Harald Baumeister. Er koordinierte die Studie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und leitet mittlerweile die Abteilung für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Ulm. Über vier Millionen Menschen leiden allein in Deutschland an Rückenschmerzen, und die Tendenz ist steigend. Häufig kann keine klare Ursache der Schmerzen gefunden werden, oder sie bestehen trotz verschiedener Therapien fort. „Wenn die Schmerzen im Rücken chronisch werden, stellt dies für viele Betroffene eine deutliche Beeinträchtigung dar, die nicht selten ihre Lebensfreude und Zuversicht mindert. Die Gefahr für Depressionen ist dann groß“, erläutert Baumeister.

Telemedizin

ist ein Sammelbegriff für ärztliche Versorgungskonzepte, bei denen medizinische Leistungen in den Bereichen Diagnostik, Therapie und Rehabilitation sowie bei der ärztlichen Entscheidungsberatung über räumliche Entfernungen hinweg erbracht werden. Telemedizin kann die Gesundheitsversorgung der Menschen insbesondere in ländlichen Regionen verbessern und ist ein wichtiger Bereich von E-Health.

Ein digitales Angebot, das die besonderen Nöte von psychisch belasteten Patientinnen und Patienten mit chronischen Rückenschmerzen aufgreift, existierte vor dem Projekt noch nicht. Viele Patientinnen und Patienten erhielten zudem keine professionelle psychotherapeutische Hilfe – oder befanden sich in einer Lage, in der sie diese nicht aktiv in Anspruch nehmen konnten oder wollten. Denn neben einer möglichen körperlichen Einschränkung durch die Schmerzen ist es gerade Zeichen einer Depression, dass Betroffene sich eher zurückziehen und neue Kontakte meiden. Deshalb ist der therapeutische Bedarf für eine leicht annehmbare, aber gleichsam geprüfte und professionelle Hilfe sehr hoch.

Screenshot einer Hausaufgabe aus dem online-Programm eSano RückCARE

Beispiel einer „Hausaufgabe“ für die Teilnehmenden des Online-Programms „eSanoBack-Care-D“ (Screenshot)

Gemeinsam mit seinen Kollegen Professor Dr. David D. Ebert und Professor Dr. Matthias Berking von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg haben Baumeister und sein Team daher das Programm „eSanoBack-Care-D“ entwickelt. Es basiert auf einem etablierten Behandlungsprogramm bei Depressionen, welches die Forschenden in eine webbasierte Form gebracht und weiterentwickelt haben (s. Kasten). Darüber hinaus erfassen sie auch die Kosten dieser Online-Intervention, wie zum Beispiel Ausgaben für Server und für die Betreuung durch Fachpersonal, und vergleichen diese mit den Kosten, die aus der Standardbehandlung ohne Online-Angebot entstehen.

Das Programm richtet sich an Patientinnen und Patienten, die wegen ihrer fortdauernden Rückenschmerzen einen Aufenthalt in einer orthopädischen Rehaklinik verbracht haben und Zeichen einer milden bis moderaten depressiven Störung zeigten. Es gelang den Forschungsteams, deutschlandweit in 82 Rehabilitationskliniken eine große Stichprobe zu rekrutieren, die repräsentativ für die Routineversorgung in Deutschland ist. „Unsere Untersuchung ist darüber hinaus auch weltweit etwas Besonderes, weil es bislang noch keine Studie gibt, die diese Frage überhaupt und mit ähnlich hohen methodischen Qualitätsansprüchen untersucht hat“, erklärt Berking.

Internettherapie – passend für jede Patientin und jeden Patienten?

Eine wichtige Begleitfrage der Forschenden ist, ob die Betroffenen überhaupt ein webbasiertes Behandlungsverfahren akzeptieren. Menschen mit chronischen Rückenschmerzen und Depressionen sind durchschnittlich etwa 50 Jahre alt. Für viele in dieser Altersgruppe ist das Internet oder das Smartphone längst nicht so geläufig wie für junge Menschen.

„Die Patientinnen und Patienten haben unsere digitale Therapie angenommen und durchgeführt. Wir können daher sagen, dass eine webbasierte Behandlung ein vielversprechender, neuartiger Baustein für therapeutische Prozesse in der Regelversorgung ist“, sagt Baumeister. Ob das Programm tatsächlich auch wirksam ist, um Depressionen zu behandeln, wird sich ebenfalls bald zeigen. „Wir sind kurz davor unsere Ergebnisse zu veröffentlichen. Soviel sei an dieser Stelle schon verraten: Sicherlich bedarf es auch weiterhin eines genauen Blicks, welche Form von Unterstützung zu welchem Zeitpunkt der Behandlung und für welchen Patienten nützlich und sinnvoll ist, um eine optimale Unterstützung bieten zu können.“

Das Programm „eSanoBack-Care-D“

Das im Projekt entwickelte Online-Angebot „eSanoBack-Care-D“ integriert Ansätze der kognitiven Verhaltenstherapie, Methoden der körperlichen Aktivierung sowie Techniken zur aktiven Problemlösung. Neben allgemeinen Inhalten zur Behandlung von Depressionen sind spezifische Elemente für Patientinnen und Patienten mit chronischen Rückenschmerzen enthalten. Das Programm besteht aus sechs Modulen mit einer Dauer von jeweils 45 bis 60 Minuten, die im Abstand von einer Woche online bearbeitet werden:

  1. Informationen zur Entstehung von Depressionen und der Zusammenhang zu Rückenschmerzen
  2. Körperlich aktiv werden – Wohlbefinden, Motivation und körperliche Betätigung
  3. Problemlösestrategien: Problem- vs. Lösungsorientiert
  4. Unterbrechen von Gedankenspiralen und Achtsamkeit im Leben
  5. Stimmung und Bewegung
  6. Zukunftspläne

Im Projekt „WARD-BP“ wurden noch drei weitere, optionale Module ergänzt, die spezifische Probleme von Patientinnen und Patienten mit chronischen Rückenschmerzen adressieren. Hierbei handelt es sich um die Themen „Besserer Schlaf“, „Auswirkungen auf Sexualität und Partnerschaft“ sowie „Rückkehr zum Arbeitsplatz“.

Jede Sitzung endet mit „Hausaufgaben“, die die Teilnehmenden im Laufe der nächsten Woche ausführen sollen, um die neuen Verhaltensstrategien einzuüben. Das Programm enthält zudem maßgeschneiderte Bausteine für bestimmte Berufsgruppen, zum

Beispiel betroffene Lehrerinnen und Lehrer, oder für Menschen, die an einer weiteren häufig auftretenden Begleiterkrankung leiden, wie beispielsweise Diabetes.

Versorgungsforschung – forschen für ein patientenorientiertes Gesundheitswesen

Medizinische Fachkraft versorgt Patientin

Die Versorgungsforschung orientiert sich an den Wünschen und Bedürfnissen der Patientinnen und Patienten.

DLR Projektträger/BMBF

Die Versorgungsforschung nimmt die alltägliche Patientenversorgung unter die Lupe: Ist eine neue Behandlungsform auch im Versorgungsalltag wirksam? Wie wird sie von den Patientinnen und Patienten angenommen? Lässt sie sich gut in den medizinischen Alltag in der Praxis oder im Krankenhaus einbauen? Wenn dem nicht so ist, woran könnte es liegen? Die Versorgungsforschung liefert wichtige Antworten auf Fragen wie diese und sichert sie wissenschaftlich ab. Davon profitieren die Patientinnen und Patienten sowie alle Akteure und Entscheidungsträger im Gesundheitswesen.

Zukünftig wird die Versorgungsforschung noch an Bedeutung gewinnen. Denn der demografische Wandel und die gesellschaftlichen Veränderungen stellen auch das Gesundheitssystem vor neue Herausforderungen. Digitalisierung und Künstliche Intelligenz können helfen, diesen Herausforderungen zu begegnen. So ermöglicht das Digitale-Versorgung-Gesetz schon heute die Verordnung von Apps auf Rezept. Online-Sprechstunden und telemedizinische Behandlung werden alltäglich. Aufgabe der Versorgungsforschung wird es sein, diese neuen Versorgungswege mitzugestalten, zu untersuchen und zu bewerten, damit sie den Menschen wirklich helfen.

Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) hat die Versorgungsforschung in den vergangenen Jahren intensiv unterstützt. Mit dem „Aktionsplan Versorgungsforschung“ hat das Ministerium die Versorgungsforschung in Deutschland nachhaltig gestärkt. Dafür hat es insgesamt rund 50 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Mit den Fördergeldern haben Universitäten beispielsweise Professuren und Nachwuchsgruppen eingerichtet, die die Versorgungs- und Altersforschung in Deutschland voranbringen. Darüber hinaus wurden mit Unterstützung des BMBF vier gesundheitsökonomische Zentren gegründet. Sie bündeln die wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Kompetenzen mit medizinischer Expertise, um wichtige gesundheitspolitische Themen vielschichtig zu betrachten.

Ansprechpartner:
Prof. Harald Baumeister
Universität Ulm
Fakultät Ingenieurwissenschaften, Informatik und Psychologie
Institut für Psychologie und Pädagogik
Abt.  Klinische Psychologie und Psychotherapie
Albert-Einstein-Allee 47
D-89081 Ulm
harald.baumeister@uni-ulm.de