September 2019

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Selbstlernende Orthesen für mehr Lebensqualität

Orthesen für die Beine sind oft unflexibel und schränken die Bewegungsfreiheit des Trägers stark ein. Mithilfe von Maschinellem Lernen und moderner Robotik soll sich das zukünftig ändern.

Mutter mit Bein-Orthese geht mit zwei Kindern spazieren.

Orthesen, die sich an veränderte Bedingungen wie zum Beispiel Steigungen, unebene Untergründe oder schwankende Tagesform anpassen können – daran arbeitet das Team um Professor Florentin Worgötter.

Ottobock

Orthesen umschließen das Körperteil, das sie stützen sollen, mit Bändern und Gurten. So tragen sie dazu bei, Beschwerden zu lindern und Heilungsprozesse zu unterstützen. Nach einer Sportverletzung wird beispielsweise das Sprunggelenk fixiert, bis der Bänderriss ausgeheilt ist. Orthesen können auch die Funktion von Gelenken unterstützen. Diese medizinischen Hilfsmittel werden häufig nach einer Verletzung oder einer Operation eingesetzt, aber auch bei Lähmungserscheinungen etwa infolge eines Schlaganfalls. Viele dieser Patientinnen und Patienten sind über einen längeren Zeitraum hinweg auf die Orthese angewiesen. Aufgrund ihres unflexiblen Aufbaus und Verhaltens ist es allerdings oft sehr anstrengend und umständlich, sich mit ihnen fortzubewegen, sodass viele Erkrankte auf ihren Gebrauch verzichten.

Maschinelles Lernen

ist eine Methode der Künstlichen Intelligenz: Maschinen und Computer lösen vorgegebene Aufgaben automatisiert und ohne komplett vorgegebene Lösungswege. Mit ausgeklügelten Algorithmen erkennen sie in komplexen Daten versteckte Muster und Gesetzmäßigkeiten. Ihre Ergebnisse und „Erfahrungen“ lassen die lernenden Maschinen in die Analyse neuer Daten einfließen. Maschinelles Lernen wird heute beispielsweise in der Diagnostik eingesetzt, beispielsweise bei der Analyse von Mammografien. Das Deep Learning ist eine Methode des Maschinellen Lernens.

Ein erster Schritt hin zu mehr Komfort sind moderne Orthesen mit beweglichen Kniegelenken. Belastet der Träger dieser Orthese das entsprechende Bein, so versteift das künstliche Gelenk und stabilisiert somit den Schritt. Wird es hingegen entlastet, so löst sich auch das Gelenk und das Bein kann nach vorne bewegt werden. Aber auch dieses System erreicht schnell seine Grenzen, denn es berücksichtigt nicht, dass sich beispielsweise die Beschaffenheit des Bodens oder die Steigung des Weges verändern. Der Einsatz dieser Orthese ist zudem nur einem kleineren Kreis der Betroffenen vorbehalten, da für die Anwendung eine bestimmte Restaktivität in den Muskeln sowie eine gewisse Beweglichkeit des Hüftgelenks Voraussetzung sind.

Prototyp einer Orthese

Prototyp einer Orthese

Ottobock

Um die Qualität der Orthesen zu verbessern, entwickelten Forschende des „Bernstein Fokus: Neurotechnologie“ neuronale Netzwerke, die Signale von Sensoren in der Orthese verwenden. Sie können die Messdaten, die durch die Sensoren gewonnen werden, direkt auswerten und ermöglichen somit eine Anpassung der Orthese auf Terrain oder Bewegungsmuster in Echtzeit. „Um eine gute Anpassung zu gewährleisten, mussten wir zunächst die einzelnen Sensoren und Widerstände der Orthese modular gestalten. Sie bauen jetzt aufeinander auf und sind trotzdem voneinander unabhängig. So kann sich jedes Modul den jeweiligen Bedingungen anpassen, ohne dass andere Module dadurch eingeschränkt werden“, erläutert Professor Florentin Wörgötter. „Damit können sich die Orthesen nicht nur den unterschiedlichen Voraussetzungen der Patientinnen und Patienten anpassen, sondern beispielsweise auch auf ihren Erschöpfungszustand reagieren.“ Der Physiker von der Universität Göttingen leitete das entsprechende Teilprojekt.

Die Sensoren analysieren mithilfe der neuronalen Netzwerke fortlaufend den Gang des Trägers. Dafür messen sie beispielsweise die Schrittlänge und -frequenz sowie die Gehgeschwindigkeit, aber auch die Kräfte, die auf die Gelenke einwirken. Anhand dieser Messdaten lässt sich sowohl auf den Aktivitätszustand des Trägers als auch auf die Beschaffenheit seines Umfeldes rückschließen. Darauf kann die Orthese reagieren, beispielsweise indem sie die Schrittweite anpasst oder das Gelenk stärker dämpft. Des Weiteren ist dieses System so gebaut, dass es an jeden Patienten individuell angepasst werden kann. Mit einem einfachen Touchpad kann er – gemeinsam mit seinem behandelnden Arzt – selber einstellen, wie die Orthese reagieren soll. Auch das ist ein Vorteil des neuen Systems: Jedes System ist individuell und reagiert aktiv auf Träger und Terrain.

Computational Neuroscience  – wie Computer helfen, das Denken zu verstehen

Mit dem Ansatz der Computational Neuroscience wird erforscht, wie das Nervensystem Informationen verarbeitet. Das reicht von den Sinneseindrücken beim Sehen und Hören bis hin zum Lernen, Erinnern und schließlich dem Treffen von Entscheidungen.

Dafür entwickeln Forschende auf der Basis experimentell gewonnener Daten mathematische Modelle, mit denen sie neuronale Funktionen am Computer simulieren. Die Vorhersagen der Modelle zum neuronalen Verhalten überprüfen sie wiederum experimentell. Dieses Wechselspiel optimiert die virtuellen Modelle und bringt die Forschenden dem Verständnis der Hirnfunktionen so Schritt für Schritt näher.

Das BMBF etablierte durch eine Reihe aufeinander abgestimmter und einander ergänzender Förderinitiativen das Nationale Bernstein Netzwerk Computational Neuroscience (NNCN). Das Gesamtfördervolumen beträgt im Zeitraum von 2004 bis 2020 rund 190 Millionen Euro.

Ansprechpartner:
Prof. Florentin Wörgötter
Georg-August-Universität Göttingen
Bernstein Center for Computational Neuroscience
Department for Computational Neuroscience
III Physikalisches Institut – Biophysik
Friedrich-Hund Platz 1
37077 Göttingen
worgott@gwdg.de