Juli 2022

| Newsletter 107

Erste WHO-Klassifikation von Tumoren im Kindesalter

Die neue WHO-Klassifikation bildet weltweit die Grundlage für eine moderne und präzise Krebsdiagnostik in der Kinderonkologie. Sie basiert auf Forschungsergebnissen unter anderem aus dem Deutschen Konsortium für Translationale Krebsforschung (DKTK).

Die unterschiedlichen Farben zeigen die molekularen Fingerabdrücke von fast 100.000 Hirntumorproben.

Die unterschiedlichen Farben zeigen die molekularen Fingerabdrücke von fast 100.000 Hirntumorproben. Jeder Punkt ist eine Tumorprobe, die in ihrer molekularen Ähnlichkeit zueinander angeordnet sind. Die verschiedenen Farben stellen die unterschiedlichen Tumorarten und Subtypen dar.
 

Martin Sill/KiTZ

Obwohl Krebserkrankungen im Kindesalter selten sind, ist es ein großes Anliegen, gerade den jungen Patientinnen und Patienten einen langfristigen Therapieerfolg zu ermöglichen. Grundlage für die Diagnose von Krebs bei Kindern und Erwachsenen sind die Klassifikationen der WHO (World Health Organization). Eine entnommene Tumorprobe wird anhand ihrer Gewebeeigenschaften, ihrer molekularen Eigenschaften und ihrer Lokalisation klassifiziert und präzise charakterisiert. Der Tumor erhält mit dieser Klassifikation ein einheitliches und international gültiges Etikett, das die Grundlage für seine Behandlung bildet.

Kindliche Tumoren sind jedoch in vielerlei Hinsicht einzigartig. „Tumoren im Kindes- und Jugendalter unterscheiden sich grundlegend in Bezug auf Tumortypen, Entstehungsursachen, Biologie und therapeutische Ansätze von Tumoren bei Erwachsenen“, betont Professor Dr. Stefan Pfister, Direktor des Hopp-Kinderkrebszentrums Heidelberg (KiTZ), Abteilungsleiter am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ), Kinderonkologe am Universitätsklinikum Heidelberg (UKHD) und Wissenschaftler im DKTK. Er ist einer der Hauptautoren der Veröffentlichung, in der die wichtigsten Erkenntnisse und Prinzipien des ersten Nachschlagewerkes kindlicher Tumoren beschrieben werden.

Viele Krebserkrankungen im Kindesalter werden durch ein einzelnes genetisches Ereignis verursacht, das in einer Zelle während ihrer Entwicklungsphase auftritt und in der Folge zu einer unkontrollierten Zellteilung führt. Im Gegensatz dazu sind bösartige Erkrankungen bei Erwachsenen in der Regel auf mehrere genetische Ereignisse zurückzuführen, häufig verursacht durch äußere chronische Einflüsse wie Rauchen, Alkohol, Infektionen oder UV-Licht. In der Praxis bedeutet dies, dass Tumore, deren Gewebe unter dem Mikroskop ähnlich aussehen und die im gleichen Organ auftreten, trotzdem einen ganz anderen Ursprung, eine völlig verschiedene Biologie und einen unterschiedlichen Krankheitsverlauf haben können.

Tumorklassifikationen der WHO

Die Tumorklassifikation der Weltgesundheitsorganisation WHO klassifiziert Krebserkrankungen auf der Grundlage definierter Kriterien. Seit 1956 fördert die WHO die Veröffentlichung der Klassifikation von Tumoren, besser bekannt als die „Blauen Bücher“ der WHO. Jedes Buch enthält eine dem neuesten Stand der Technik und wissenschaftlichen Erkenntnissen entsprechende Klassifikation von Tumoren für jedes Organ. Früher wurden pädiatrische Tumore ausschließlich zusammen mit den Tumoren Erwachsener in organspezifische Tumorklassifikationen aufgenommen.

Die Kindesentwicklung besser einbeziehen

Die neue WHO-Klassifikation kindlicher Tumore, die gemeinsam von Heidelberger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und zahlreichen weiteren internationalen Expertinnen und Experten entwickelt wurde, beruht deshalb auf einem modernen, vielschichtigen Ansatz. Dieser lässt nicht nur alle mikroskopisch sichtbaren, sondern auch zahlreiche molekulare Merkmale in die Diagnose miteinfließen. Das Buch, das jetzt als Band 7 der fünften Ausgabe der WHO-Klassifikation von Tumoren veröffentlicht wird, stellt das bislang erste Nachschlagewerk aller Tumorarten dar, die im Kindes- und Jugendalter auftreten können.

„Bisher waren die kindlichen Tumoren lediglich in den organspezifischen WHO-Klassifikationen unter den zahlreichen Krebsarten aufgeführt, die praktisch nur im Erwachsenenalter vorkommen“, sagt Professor Dr. Andreas von Deimling, ärztlicher Direktor der Neuropathologie des UKHD, Leiter der klinischen Kooperationseinheit Neuropathologie am DKFZ und Wissenschaftler im DKTK. Neben der üblichen Einordnung nach Organen wird auch zwischen den Krebserkrankungen unterschieden, die typischerweise bei Säuglingen, älteren Kindern und Jugendlichen auftreten. „Eine ganzheitliche Sichtweise sollte schließlich den Tumor eines Kindes nicht nur als Erkrankung eines Organs, sondern als Erkrankung eines Organs in einem sich entwickelnden Kind betrachten“, erläutert die Mitautorin Rita Alaggio, Leiterin der Abteilung für Pathologie am Bambino Gesù Kinderkrankenhaus in Rom.

Weltweit präzisere Diagnoseansätze

Durch die Ergänzung genetischer und anderer molekularer Tumoreigenschaften sei es zudem auch möglich, ganz neue Tumorarten zu identifizieren, therapeutische Angriffspunkte aufzuzeigen und Einschätzungen des Krankheitsverlaufs vorzunehmen, so die Autorinnen und Autoren. Während beispielsweise Tumore des Bindegewebes immer noch hauptsächlich anhand von Gewebestrukturen eingeteilt werden, werden Tumore des zentralen Nervensystems und Leukämien heute meist auf der Grundlage wiederkehrender molekularer oder epigenetischer Veränderungen oder Muster klassifiziert.

Mittelfristig könnten auch Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen von den neuen präziseren Diagnosekriterien zur Behandlung krebskranker Kinder profitieren, hoffen die Expertinnen und Experten. „Eine wichtige Voraussetzung dafür ist die Entwicklung erschwinglicher Tests und die Anbindung an die pathologischen und kinderonkologischen Netzwerke“, sagt Stefan Pfister. Gerade in Ländern, in denen es oft zu wenige spezialisierte Pathologinnen und Pathologen zur Beurteilung von Tumorproben gibt, könnten diese Methoden helfen, präzisere Diagnoseansätze speziell für krebskranke Kinder standardmäßig einzusetzen.

Pfister ist überzeugt, dass eine frühzeitige Präzisionsdiagnostik die Situation vieler Patientinnen und Patienten bereits entscheidend verbessern kann: „Wenn wir nur zwei oder drei Prozent der Kosten einer modernen Krebstherapie in eine objektive, präzise und eindeutige Diagnose investieren, in der wir molekulare Tumorprofile, Biomarker zur Vorhersage des Krankheitsverlaufs und erbliche Krebsveranlagungen zusammenbringen, ist das eine extrem gute Investition für die Patienten. Um passgenaue Behandlungen empfehlen zu können und Nebenwirkungen zu vermeiden.“

Originalpublikation:
Pfister SM, Reyes-Múgica M, Chan JKC, et al. A Summary of the Inaugural WHO Classification of Pediatric Tumors: Transitioning from the Optical into the Molecular Era. Cancer Discov. 2022;12(2):331-355, DOI:10.1158/2159-8290.CD-21-1094

Deutsches Konsortium für Translationale Krebsforschung (DKTK)

Das DKTK ist eines von sechs Deutschen Zentren der Gesundheitsforschung, die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und den Sitzländern gefördert werden. Im DKTK bündeln Forscherinnen und Forscher aus mehr als 20 universitären und außeruniversitären Einrichtungen in ganz Deutschland ihre Kräfte im Kampf gegen Krebserkrankungen, um möglichst rasch Ergebnisse der Grundlagenforschung in neue Ansätze zur Prävention, Diagnostik und Behandlung von Krebserkrankungen zu übertragen. In dem Konsortium verbindet sich das DKFZ in Heidelberg als Kernzentrum langfristig mit onkologisch besonders ausgewiesenen universitätsmedizinischen Einrichtungen an den sieben Partnerstandorten Berlin, Dresden, Essen/Düsseldorf, Frankfurt/Mainz, Freiburg, München und Tübingen.

Weitere Informationen über das DKTK gibt es unter www.dktk.dkfz.de

Ansprechpartner:
Prof. Dr. med. Stefan Pfister
Hopp-Kindertumorzentrum Heidelberg
Deutsches Krebsforschungszentrum (DKFZ)
Im Neuenheimer Feld 580
69120 Heidelberg
06221 42-4617
s.pfister@kitz-heidelberg.de

Pressekontakt:
Dr. Nadine Ogrissek
Deutsches Konsortium für Translationale Krebsforschung (DKTK)
Deutsches Krebsforschungszentrum (DKFZ)
Stiftung des öffentlichen Rechts
Im Neuenheimer Feld 280
69120 Heidelberg
06221 42-1646
nadine.ogrissek@dkfz.de