April 2022

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Fatale Kurzschlüsse: Schädliche Umbauprozesse in COVID-19-Lungen

Bei schwerem COVID-19-Verlauf kommt es zu einem massiven Umbau der feinen Blutgefäße in der Lunge. Das konnten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Deutschen Zentrums für Lungenforschung (DZL) mit einer neuen hochauflösenden Röntgentechnik zeigen.

Lungengewebe

Dreidimensionale Rekonstruktion des Lungengewebes eines an COVID-19 verstorbenen Patienten. Die wabenförmigen Strukturen in der Mitte entsprechen angeschnittenen Alveolarräumen, in denen der Gasaustausch stattfindet. Bei COVID-19 sind diese deutlich verzerrt, abgeflacht, teilweise zusammengefallen oder vollständig durch ein entzündliches Sekret ausgefüllt. Mit konventionellen Verfahren waren diese mikroskopischen Veränderungen bislang  nicht abzubilden.

ESRF/Stef Candé

Dringt SARS-CoV-2 in die Lunge ein, richtet es massive Gewebeschäden an. Die Blutgerinnung schießt über und verstopft die Lungengefäße. Ein internationales Forschungsteam um die DZL-Wissenschaftler Professor Dr. Danny Jonigk von der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) sowie Willi Wagner vom Universitätsklinikum Heidelberg konnte nun erstmals nachweisen, dass sich bei einem schweren COVID-19-Verlauf außerdem die beiden normalerweise getrennten Blutsysteme der Lunge ungewöhnlich häufig miteinander verbinden.

Das eine Blutsystem gehört zum Lungenkreislauf und versorgt den gesamten Körper mit Sauerstoff. Das andere liefert dem Lungengewebe selbst das lebensnotwendige Gas. In der geschädigten COVID-19-Lunge sind die beiden Blutsysteme in vielen Bereichen über feine Blutgefäße vernetzt. „Diese große Anzahl irreversibler Shunts wirken wie ein weit geöffnetes Schleusentor und sorgen dafür, dass die Sauerstoffversorgung im gesamten Körper nicht mehr funktioniert“, erklärt Jonigk. Er vermutet, dass die Lunge so in einer Art Kurzschlussreaktion versucht, den Sauerstoffmangel durch die SARS-CoV-2-Infektion kurzfristig auszugleichen.

Lungengewebe

Dreidimensionale Rekonstruktion des Lungengewebes eines an COVID-19 verstorbenen Patienten. Blau eingefärbt sind die Atemwege bis hinunter in die Alveolen, in Rot die Pulmonalarterien und in Gelb die arteriellen Gefäßäste der Lunge dargestellt. Auf Ebene der Alveolarräume ist die Lungenarchitektur deutlich gestört.

ESRF/Stef Candé

Hochaufgelöste dreidimensionale Organbilder

Möglich wurden diese Erkenntnisse dank einer neuen Technologie, die mit hochauflösenden Röntgenstrahlen ein dreidimensionales Bild der kompletten Lunge eines verstorbenen COVID-19-Patienten erzeugte. Mit der neuen Technik, der Hierarchischen Phasen-Kontrast-Tomografie (HiP-CT), ist es erstmals möglich, ein ganzes Organ dreidimensional und stark vergrößert abzubilden, ohne es zu beschädigen. Dadurch konnten die Forschenden Strukturen untersuchen, die im Grenzbereich der Auflösung liegen und Veränderungen im gesamten Lungengewebe erfassen. Für die Entwicklung des neuen bildgebenden Verfahrens arbeiteten sie mit dem Europäischen Synchrotron ESRF (European Synchrotron Radiation Facility) im französischen Grenoble zusammen, dem weltweit drittgrößten Teilchenbeschleuniger.

Hierarchische Phasen-Kontrast-Tomografie (HiP-CT)

Die neue Röntgentechnik funktioniert ähnlich wie eine Computertomografie (CT) im Krankenhaus. Allerdings ist die Auflösung um das Hundertfache höher. Ein CT-Scan kann Blutgefäße im Millimeterbereich darstellen. Die neue Technologie namens Hierarchische Phasen-Kontrast-Tomografie (HiP-CT) ist in der Lage, feinste Gefäße mit einem Durchmesser von fünf Mikrometern abzubilden – das entspricht etwa einem Zehntel der Dicke eines Haares. Die HiP-CT macht es möglich, in die Tiefe der Lunge vorzustoßen und selbst kleinste Strukturen bis hin zu einzelnen Zellen darzustellen. Diese Auflösung war bislang nur mit einem Mikroskop möglich, allerdings nur zweidimensional und für kleine Gewebeproben.

Revolution der medizinischen Bildgebung

Die brillante, hochauflösende Technologie werde die medizinische Bildgebung und das Verständnis über den Aufbau unseres Körpers revolutionieren, meint Jonigk. „Jetzt haben wir die Möglichkeit, winzige Strukturen dreidimensional in ihrem richtigen räumlichen Zusammenhang in großem Maßstab darzustellen“, erklärt er. Das Forschungsteam hat schon begonnen, einen weiter gehenden Organatlas zu erstellen. Neben der COVID-19-geschädigten Lunge enthält er bereits Bilder mehrerer gesunder menschlicher Organe wie Gehirn, Lunge, Herz, Nieren und Milz. Der Pathologe ist außerdem überzeugt, dass die HiP-CT-Röntgentechnik neue Erkenntnisse über zahlreiche Krankheiten bis hin zu Krebs und Alzheimer liefern wird.

Deutsches Zentrum für Lungenforschung (DZL)

Das Deutsche Zentrum für Lungenforschung (DZL e. V.) ist ein vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderter Zusammenschluss aus 29 führenden universitären und außeruniversitären Einrichtungen, die sich der Erforschung von Atemwegserkrankungen widmen. Im DZL wird die grundlagen-, krankheits- und patientenorientierte Forschung auf dem Gebiet der Lungenerkrankungen koordiniert und auf internationalem Spitzenniveau durchgeführt, um so die Translation grundlagenwissenschaftlicher Erkenntnisse in neue klinische Konzepte zur Verbesserung der Patientenversorgung zu beschleunigen.
Mehr Informationen: www.dzl.de

Originalpublikationen:
Ackermann, M., Tafforeau, P., Wagner, W. L., et al. (2022). The Bronchial Circulation in COVID-19 Pneumonia. Am J Respir Crit Care Med. 2022;205(1):121-125, DOI: 10.1164/rccm.202103-0594IM

Walsh, C. L., Tafforeau, P., Wagner, W. L., et al. (2021). Imaging intact human organs with local resolution of cellular structures using hierarchical phase-contrast tomography. Nat Methods. 2021;18(12):1532-1541, DOI: 10.1038/s41592-021-01317-x

Ansprechpartner:
Prof. Dr. Danny Jonigk
Medizinische Hochschule Hannover
Institut für Pathologie
Carl-Neuberg-Straße 1
30625 Hannover
0511 532-4500
Jonigk.Danny@MH-Hannover.de

Pressekontakt:
Deutsches Zentrum für Lungenforschung e. V. (DZL)
Dr. Christian Kalberlah
Aulweg 120
35392 Gießen
0641 99-46718
contact@dzl.de