Mai 2021

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Nebenwirkungen bei der Therapie von Schizophrenie verringern

Gegen Schizophrenie sind bereits viele Medikamente zugelassen – aber welches hilft Patientinnen und Patienten mit ihrem persönlichen Risikoprofil am besten? Mithilfe eines aufwendigen statistischen Verfahrens erarbeiteten Forschende nun Empfehlungen.

Übereinandergelagerte Porträts eines Mannes, der dadurch gleichzeitig von vorn und von der Seite zu sehen ist.

Medikamente gegen Schizophrenie unterscheiden sich oft nur geringfügig hinsichtlich ihrer Wirksamkeit, aber sehr deutlich in Bezug auf ihre Nebenwirkungen. Dies zeigte eine vom BMBF geförderte Studie Münchner Forschender, die international in Leitlinien zur Behandlung dieser psychischen Krankheit einging.

TeamDaf/Adobe Stock

Wer bedrohliche Stimmen im Kopf hört, sich verfolgt fühlt oder das Gefühl hat, dass die Welt auseinanderfällt, benötigt dringend Hilfe. Wird eine akute Schizophrenie diagnostiziert, stehen verschiedene Medikamente zur Auswahl. „Es gibt so viele Antipsychotika, dass es unmöglich ist, alle Wirkungen und Nebenwirkungen im Kopf zu haben“, erläutert Professor Dr. Stefan Leucht von der Technischen Universität München. „Weltweit sind etwa 50 verschiedene Präparate verfügbar, die sich hinsichtlich ihrer Wirkungen und Nebenwirkungen unterscheiden. Bislang wurden diese Unterschiede allerdings nicht systematisch analysiert.“ Im Rahmen einer vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Studie untersuchte sein Team daher 402 klinische Studien zu 32 verschiedenen Medikamenten mit insgesamt 53.463 Teilnehmenden und unterzog die Ergebnisse dieser wissenschaftlichen Arbeiten einer sogenannten Netzwerkmetaanalyse, um Wirkungen und Nebenwirkungen zu vergleichen, zu ergänzen und zu bewerten.

Ähnliche Wirkungen, sehr unterschiedliche Nebenwirkungen

„Unsere Analysen zeigen, dass sich die Medikamente eher leicht hinsichtlich ihrer Wirksamkeit, aber sehr deutlich hinsichtlich ihrer Nebenwirkungen unterscheiden“, fasst Leucht zusammen. Die Nebenwirkungen wie beispielsweise Gewichtszunahme, Bewegungsstörungen oder eine verminderte Lebensfreude können die Patientinnen und Patienten aber stark beeinträchtigen. Oft führen diese sogar dazu, dass Betroffene die dringend benötigten Arzneimittel ohne ärztliche Unterstützung wieder absetzen und somit ein erneutes Aufflammen ihrer Erkrankung riskieren.

Klinische Studien mit hoher Relevanz für die Patientenversorgung

Das Projekt „Netzwerkmetaanalyse zur Effektivität, Akzeptabilität und Tolerabilität von (typischen und atypischen) Antipsychotika bei Schizophrenie“ wurde von 2014 bis 2017 im Rahmen der Fördermaßnahme „Klinische Studien mit hoher Relevanz für die Patientenversorgung“ vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) mit rund 166.000 Euro gefördert. 

Die Münchner Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erarbeiteten eine Hierarchie, welches Medikament in Bezug auf die Gesamtwirksamkeit, aber auch in Bezug auf das Risikoprofil der Behandelten das beste Präparat ist, welches an zweiter Stelle steht und welche weniger gut abschneiden. „Behandelnde Ärztinnen und Ärzte können sich an den von uns gefundenen Hierarchien orientieren“, sagt Leucht. „Auch die internationale Forschungsgemeinschaft muss über die Wirkungen und Nebenwirkungen der vorhandenen Medikamente Bescheid wissen – zum Beispiel, um die Entwicklung neuer Medikamente an diesen auszurichten. Schließlich sind unsere Ergebnisse auch aus ökonomischen Gründen relevant, denn die Medikamente unterscheiden sich auch erheblich in ihren Kosten.“ Die Ergebnisse der Münchner Studie wurden 2019 in der renommierten Fachzeitschrift „The Lancet“ veröffentlicht und gingen international in verschiedene medizinische Leitlinien zur Behandlung von Schizophrenie ein.

Neues Projekt: Wissen besser zugänglich machen

In einem Folgeprojekt erarbeiten Leucht und sein Team, wie man die Erkenntnisse zu den Medikamenten nun auch möglichst vielen Menschen zugänglich machen kann. „Hier sollte nach dem Prinzip der partizipativen Entscheidungsfindung vorgegangen werden, die Betroffenen treffen also gemeinsam mit ihren Ärztinnen und Ärzten eine Therapieentscheidung. Dafür bieten sich zum Beispiel Apps an, in denen die Hierarchien der verschiedenen Medikamente in laienverständlicher Weise angezeigt werden“, so Leucht. Ein entsprechendes Forschungsprojekt wurde bereits vom Innovationsausschuss beim Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) bewilligt, sodass die Ergebnisse des vom BMBF geförderten Projektes nun in einer praktischen Anwendung erprobt werden können.

Auch die Metaanalyse der wissenschaftlichen Publikationen zu Antipsychotika wird die Forscherinnen und Forscher weiter beschäftigen, sagt Leucht: „Schätzungen zufolge verdoppelt sich das medizinische Wissen alle vier Jahre, was natürlich immer neue Therapieoptionen nach sich zieht. Das bedeutet, dass auch der Bedarf an einordnenden Forschungssynthesen wie der unseren weiter steigen wird.“

Was ist Schizophrenie?

Schizophrenie ist eine psychische Erkrankung, von der weltweit etwa ein Prozent aller Menschen betroffen sind. Weil sie in der Regel im frühen Erwachsenenalter beginnt und oft chronisch verläuft, gehört sie zu den Erkrankungen, die laut Statistiken der Weltgesundheitsorganisation WHO weltweit am häufigsten zu Beeinträchtigungen im Alltag beitragen. Die Lebenserwartung von Patientinnen und Patienten mit Schizophrenie ist um etwa 15 Jahre verkürzt. Hierzu tragen, neben einer hohen Suizidrate, wahrscheinlich auch die zahlreichen Nebenwirkungen der Antipsychotika bei. Auch die Belastung der Angehörigen, die sich um die Patientinnen und Patienten kümmern, ist sehr groß.

Originalpublikation:
Huhn, M., Nikolakopoulou, A., Schneider-Thoma, J. et al. Comparative efficacy and tolerability of 32 oral antipsychotics for the acute treatment of adults with multi-episode schizophrenia: a systematic review and network meta-analysis. Lancet 2019 July 11; 394: 939–951. doi: 10.1016/: S0140-6736(19)31135-3

Ansprechpartner:
Prof. Dr. Stefan Leucht
Sektion Evidenzbasierte Medizin in Psychiatrie und Psychotherapie
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Klinikum rechts der Isar
Technische Universität München
Ismaninger Straße 22
81675 München
089 41404-249
stefan.leucht@tum.de