Juli 2022

| Newsletter 107

Neue Chance für eine alte Herzensangelegenheit

Digitoxin, ein Wirkstoff aus dem Roten Fingerhut, wird seit langem zur Behandlung von Menschen mit fortgeschrittener Herzschwäche eingesetzt. Zweifelsfrei nachgewiesen wurde der Nutzen aber noch nicht. Eine klinische Studie aus Hannover will dies nun ändern.

Die Studienleiter der DIGIT-HF-Studie an der Medizinischen Hochschule Hannover, Prof. Dr. Udo Bavendiek (links) und Prof. Dr. Johann Bauersachs.

Die Studienleiter der DIGIT-HF-Studie an der Medizinischen Hochschule Hannover, Prof. Dr. Udo Bavendiek (links) und Prof. Dr. Johann Bauersachs.

MHH, Klinik für Kardiologie und Angiologie

Herzschwäche – eine verminderte Pumpleistung des Herzens – ist heute dank einer modernen Arzneimitteltherapie mit Wirkstoffen wie beispielsweise ACE-Hemmern und Betablockern behandelbar. Dennoch interessieren sich Forschende im Rahmen der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten DIGIT-HF-Studie (DIGitoxin to Improve ouTcomes in patients with advanced chronic Heart Failure) für einen alten (Finger-)Hut der Kardiologie: Sie untersuchen in dieser klinischen Studie, ob der Wirkstoff Digitoxin, der ursprünglich aus der heimischen Waldpflanze Digitalis purpurea gewonnen wurde, eine wichtige Unterstützung für die Behandlung von Herzschwäche (Herzinsuffizienz) sein kann.

„Digitalispräparate werden wegen ihrer stärkenden Wirkung auf die Schlagkraft des Herzens schon seit über 200 Jahren zur Behandlung der Herzinsuffizienz eingesetzt, ihr Nutzen zusätzlich zur heutigen Standardmedikation wurde aber noch nicht wissenschaftlich nachgewiesen“, sagt Professor Dr. Johann Bauersachs, Studienleiter und Direktor der Klinik für Kardiologie und Angiologie der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH). „Unsere Studie füllt eine Wissenslücke, denn wir haben großen Bedarf an weiteren Behandlungsmöglichkeiten bei Herzschwäche“, ergänzt Co-Studienleiter Professor Dr. Udo Bavendiek, Oberarzt an der Klinik für Kardiologie und Angiologie. Hintergrund ist, dass manche Patientinnen und Patienten die heutige Standardtherapie nicht oder nur eingeschränkt vertragen – beispielsweise, wenn sie zusätzlich eine eingeschränkte Nierenfunktion haben. „Digitoxin könnte sich als ein wirksames und preisgünstiges Medikament herausstellen, das die Behandlungsmöglichkeiten bei Herzschwäche deutlich verbessert“, so Bavendiek.

Die Renaissance des Digitoxins

Für das Digitoxin eröffnet die Studie sozusagen eine zweite Chance. Bereits in den 1960er Jahren wurde es zur Therapie der Herzinsuffizienz eingesetzt, geriet dann aber wegen Nebenwirkungen in Verruf. „Heute wissen wir, dass die Dosierung damals zu hoch war, denn Digitoxin baut sich im Körper nur sehr langsam ab“, erklärt Studienleiter Bavendiek. Anstelle von Digitoxin verordnete man den Wirkstoff Digoxin. Dabei handelt es sich ebenfalls um ein Digitalispräparat, welches aber chemisch gesehen um eine Hydroxygruppe reicher ist, daher über die Nieren deutlich schneller ausgeschieden wird und so eine kurze Halbwertszeit hat.

Die DIGIT-HF-Studie: Teilnehmende weiterhin gesucht
Die DIGIT-HF-Studie läuft seit 2015 und wird noch bis 2024 weitergeführt, um die notwendige Gesamtzahl von etwa 1.700 Studienpatientinnen und -patienten zu erreichen. Das BMBF stellt in der zweiten Förderperiode rund 3,8 Millionen Euro für die Studie bereit; die erste Förderperiode wurde mit rund drei Millionen Euro unterstützt. Die Deutsche Herzstiftung sowie die Braukmann-Wittenberg Herz-Stiftung unterstützen Teilprojekte innerhalb der Studie. Es besteht für Betroffene noch bis Ende März 2023 die Möglichkeit, an dem Forschungsprojekt teilzunehmen.
Weitere Informationen unter
www.digit-hf.de

Für die Erkrankten war diese Entwicklung jedoch kein Gewinn. Da viele Patientinnen und Patienten mit schwachem Herzen auch eine deutlich eingeschränkte Nierenfunktion haben, sammelte sich das Digoxin bei ihnen in toxischen Konzentrationen an; teils lebensbedrohliche Herzrhythmusstörungen waren die Folge. Als Konsequenz geriet die Gruppe der Digitalispräparate insgesamt in Verruf.

Anliegen der Hannoveraner Forschenden ist es, das altbewährte Digitoxin zu rehabilitieren. „Im Gegensatz zum Digoxin wird Digitoxin nicht über die Nieren, sondern über Leber und Darm ausgeschieden. Das Medikament Digitoxin ist somit auch für vorbelastete Patientinnen und Patienten mit Nierenschwäche verträglich“, so Studienleiter Bauersachs.

Herzinsuffizienz – eine gefährliche Schwäche des Herzens

Unser Herz pumpt ständig Blut durch den Körper, um ihn mit Sauerstoff und Nährstoffen zu versorgen. Ist die Pumpleistung vermindert, sprechen Medizinerinnen und Mediziner von chronischer Herzschwäche oder Herzinsuffizienz. Häufig entsteht sie als Folge eines Herzinfarkts oder durch eine Verengung der Herzkranzgefäße. Die Betroffenen haben eine relativ schlechte Prognose. Atemnot, schlechte Belastbarkeit, Wassereinlagerungen bis hin zur Unbeweglichkeit, schwere Rhythmusstörungen oder Tod sind die Folgen. In Deutschland leiden ca. vier Millionen Menschen an einer chronischen Herzinsuffizienz. Trotz beachtlicher Fortschritte in Prävention und Therapie ist die Herzschwäche immer noch einer der Hauptgründe für Krankenhausaufenthalte und eine der häufigsten Todesursachen.

Lesen Sie mehr in unserem Dossier „Herz-Kreislauf-Erkrankungen“:
Herz-Kreislauf-Erkrankungen

Roter Fingerhut (Digitalis purpurea)

Digitoxin wird aus den Blättern des Roten Fingerhutes (Digitalis purpurea) gewonnen. Aus zehn Kilogramm Fingerhutblättern lassen sich sechs Gramm Digitoxin isolieren. Entdeckt wurde die Wirkung bereits im Jahr 1775 von dem britischen Arzt William Withering, der damit die Entwicklung eines der ältesten Herzmedikamente einleitete.

MHH, Klinik für Kardiologie und Angiologie

Wie so häufig kommt es auch hier auf die richtige Dosis an“, ergänzt Bavendiek. „Im bisherigen Studienverlauf erscheint die Behandlung mit Digitoxin sicher, und es konnten aus den Daten schon jetzt Empfehlungen zur einfachen und sicheren Dosierung von Digitoxin bei Patientinnen und Patienten mit Herzinsuffizienz erarbeitet werden.“

Wie gehen die Forschenden vor?

Die DIGIT-HF-Studie wird von der MHH in Zusammenarbeit mit anderen Kliniken in Deutschland, Österreich und Serbien durchgeführt. Dabei werden die Teilnehmenden nach dem Zufallsprinzip einer von zwei Behandlungsgruppen zugeordnet. Die Patientinnen und Patienten der einen Gruppe bekommen zusätzlich zur Standardbehandlung das Medikament Digitoxin. Die andere Gruppe erhält stattdessen ein identisch aussehendes Scheinmedikament (Placebo). Die Studie wird verblindet durchgeführt – weder die Forschenden noch die Betroffenen wissen, wer zu welcher Gruppe gehört. Bei der Auswertung der Ergebnisse zum Studienende im Jahr 2024 wird dann untersucht, ob die Einnahme von Digitoxin tatsächlich dazu führt, dass die Patientinnen und Patienten länger leben und weniger Zeit im Krankenhaus verbringen müssen.

Originalpublikationen:
Bavendiek, U., Aguirre Davila, L., Koch, A., Bauersachs, J. (2017): Assumption versus evidence: the case of digoxin in atrial fibrillation and heart failure. European Heart Journal (July 14, 2017), DOI: 10.1093/eurheartj/ehw577

Bavendiek, U. et al. (2019): Rationale and design of the DIGIT-HF trial (DIGitoxin to Improve ouTcomes in patients with advanced chronic Heart Failure): a randomized, double-blind, placebo-controlled study. European Journal of Heart Failure (March 20, 2019), DOI: 10.1002/ejhf.1

Ansprechpartner:
Prof. Dr. med. Johann Bauersachs
Prof. Dr. med. Udo Bavendiek
Klinik für Kardiologie und Angiologie
Medizinische Hochschule Hannover
Carl-Neuberg-Straße 1
30625 Hannover
0511 532-5500

info@digit-hf.de