September 2022

| Newsletter 108

Welche Therapie hilft bei Alkoholabhängigkeit – kontrolliert trinken oder abstinent bleiben?

Eines der größten Gesundheitsrisiken weltweit ist die Alkoholabhängigkeit, Therapien bleiben häufig erfolglos. Studien zeigen, dass neben der Abstinenz kontrolliertes Trinken unter enger medizinischer Begleitung ein geeignetes Therapieziel sein könnte.

Therapeut spricht mit Patient

Alkoholabhängige Menschen glauben häufig nicht daran, dass eine Abstinenz erreichbar ist und brechen Behandlungen vorzeitig ab. Kontrolliertes Trinken könnte ein alternatives Therapieziel sein, wenn es unter ärztlicher oder psychotherapeutischer Begleitung erfolgt.

DLR Projektträger/BMBF

Für viele Menschen ist das Verlangen nach Alkohol ein Teufelskreis, dem sie nur schwer entkommen – und dies, obwohl sie die Gefahren kennen, die mit übermäßigem Trinken einhergehen. Unkontrollierter Alkoholkonsum verursacht schwere und vielfältige gesundheitliche Schäden und hat gravierende Folgen auch für das soziale und berufliche Leben. Die Weltgesundheitsorganisation WHO zählt die durch Alkoholmissbrauch ausgelösten Krankheiten zu den schwersten weltweit. Allein in Deutschland sind 1,6 Millionen Menschen alkoholabhängig, weitere 6,7 Millionen trinken schädliche Mengen an Alkohol, und rund 200 Menschen sterben täglich aufgrund von übermäßigem Alkoholkonsum.

Defizite in der Versorgung und unbefriedigende Erfolgsquoten

Expertinnen und Experten beklagen ein massives Defizit in der medizinischen Versorgung von alkoholbezogenen Störungen. Zudem ist in der Fachwelt umstritten, wie Alkoholabhängigkeit am besten behandelt werden sollte. Jahrzehntelang wurde die langfristige Abstinenz als die einzig Erfolg versprechende Therapie angesehen. In der Praxis aber bleiben langfristige Erfolge häufig aus – so halten beispielsweise nur 20 Prozent der Betroffenen die Abstinenz bis Therapieende durch. International werden deshalb immer häufiger alternative Strategien empfohlen, insbesondere eine Reduktion der jeweiligen Trinkmenge. „Die Skepsis gegenüber dieser Therapieoption des sogenannten kontrollierten Trinkens ist groß – sowohl in der Öffentlichkeit als auch in der Ärzteschaft. Andererseits weisen wissenschaftliche Untersuchungen und die Praxis darauf hin, dass auch ein geringes Trinken unterhalb schädlicher Mengen ein Ausweg aus der Alkoholkrankheit sein kann“, erklärt Professor Dr. Christopher Baethge vom Universitätsklinikum Köln. Unter „kontrolliertem Trinken“ wird dabei nicht ein reines „Weniger“ verstanden, sondern ein Alkoholkonsum innerhalb empfohlener Mengen, die mit einem niedrigen Risiko für Schäden behaftet sind.

Alkoholabhängigkeit und ihre Folgen

Ob krankhafte Alkoholabhängigkeit oder schädlicher Alkoholkonsum – die gesundheitlichen Risiken sind für die Betroffenen groß und langfristig häufig unumkehrbar. Besonders bekannt ist die allmähliche Zerstörung des Lebergewebes (Leberzirrhose), tatsächlich aber kann übermäßiger Alkoholkonsum alle Organe und das Nervensystem schädigen. Eine Alkoholabhängigkeit geht zudem mit Veränderungen in der Psyche, Konzentrationsstörungen und erhöhtem Demenzrisiko einher. Veränderungen im sozialen Verhalten führen häufig dazu, dass die Betroffenen familiär und beruflich aus dem Tritt geraten. Bei langfristiger Alkoholabhängigkeit verringert sich die Lebenserwartung um 20 Prozent.

Um die Wirksamkeit der beiden Therapieansätze besser einschätzen zu können, hat Baethge mit seinem Team erstmals gezielt wissenschaftliche Forschungsarbeiten verglichen, in der Fachsprache wird das Systematischer Review genannt. Dazu hat die Gruppe bislang vorhandene Studien auf ausgewählte Kriterien hin untersucht und die jeweiligen Erfolge miteinander verglichen. Dabei standen drei Aspekte im Fokus, nämlich ob das kontrollierte Trinken zu einer Besserung von Symptomen, Lebensqualität, sozialer Einbindung und Folgeerkrankungen führte, wie die Ergebnisse im Vergleich zu einer Abstinenztherapie einzuordnen waren und ob die vorhandenen Studien methodisch überhaupt geeignet waren, verlässliche Ergebnisse zu erbringen. Wichtigstes Ergebnis: Beide Ansätze weisen ähnliche Erfolgsquoten auf. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) förderte die systematische Übersichtsarbeit von 2019 bis 2023 mit gut 115.000 Euro.

Vergleich der Therapieoptionen unter klaren Kriterien

Ein systematischer Review muss zwei Anforderungen genügen: Die Kriterien, nach denen die Forschungsarbeiten durchsucht werden, müssen klar definiert sein, und die Qualität der Studien muss bewertet werden. Die international zusammengesetzte Forschungsgruppe um Baethge identifizierte 22 kontrollierte Studien, in denen ein Teil der Betroffenen mit dem Ziel Abstinenz und ein zweiter Teil mit dem Ziel Kontrolliertes Trinken behandelt wurde. Nur fünf dieser Studien waren randomisiert, das heißt, dass darin die Betroffenen nach dem Zufallsprinzip auf eine der beiden Therapiegruppen verteilt worden waren – ein wichtiges Kriterium wissenschaftlicher Qualität. Wurden alle 22 Studien berücksichtigt, war die abstinenzorientierte Therapie erfolgreicher, bei Analyse der wenigen randomisierten Studien zeigte sich dagegen kein Unterschied in der Wirksamkeit der beiden Therapieansätze. Eine für das Forschungsteam wichtige Erkenntnis ist daher der Mangel an hochwertigen Studien. „Mit den vorhandenen Studien können wir nicht abschließend sagen, ob einer der beiden Therapieansätze aussichtsreicher ist. Eine klare Überlegenheit des Abstinenzparadigmas ist jedoch aus unseren Ergebnissen nicht abzuleiten“, erklärt Dr. Jonathan Henssler von der Berliner Charité.

Systematische Reviews schaffen Überblick

Systematische Übersichtsarbeiten – in der Fachsprache Reviews genannt – sind ein wichtiges Instrument, um Forschungsergebnisse in die Versorgung und damit zu den Patientinnen und Patienten zu bringen. Dabei durchforsten Forschende die weltweit bis dahin bekannten wissenschaftlichen Arbeiten gezielt zu einer Erkrankung oder einem Therapieverfahren. Sie vergleichen und bewerten die Ergebnisse und sprechen schließlich Empfehlungen für die Behandlung aus – manchmal entstehen daraus sogar neue Therapieleitlinien – oder sie weisen auf weiteren Forschungsbedarf hin. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung fördert seit 2013 kontinuierlich „Systematische Reviews mit hoher Relevanz für die Patientenversorgung“ mit insgesamt bis zu 8,5 Millionen Euro.
Lesen Sie mehr hier.

Beide Therapieansätze ähnlich erfolgreich

Professor Dr. med. Christopher Baethge

Professor Dr. med. Christopher Baethge

Deutscher Ärzteverlag

„Wenn man sich die Ergebnisse genauer ansieht, zeichnet sich unter mehreren Voraussetzungen ein vergleichbar gutes Abschneiden der reduktionsorientierten Therapie ab“, erklärt Baethge. So zeigten die Studien – sowohl bei Alkoholabhängigen als auch bei Menschen mit schädlichem Alkoholkonsum – deutlichere Erfolge, wenn die Patientinnen und Patienten sich nicht nur ganz allgemein vornahmen, „weniger“ zu trinken, sondern sich das konkrete Ziel setzten, dauerhaft nur eine vorgegebene risikoarme Menge Alkohol zu trinken. Größere Therapieerfolge in der reduktionsorientierten Gruppe zeigten sich auch, wenn die Betroffenen eine speziell auf kontrolliertes Trinken ausgerichtete psychotherapeutische Begleitung erhielten.

Weitere Ergebnisse des Reviews: Gut 20 Prozent der auf Abstinenz therapierten Betroffenen blieben bis zum Ende des Beobachtungszeitraums enthaltsam, aber auch 10 Prozent derjenigen Patientinnen und Patienten, die zunächst eine Reduktion ihres Alkoholkonsums angestrebt hatten, blieben abstinent. Unter beiden Therapieansätzen reduzierte ein gleich großer Anteil der Betroffenen die Trinkmenge substanziell; ihre körperliche und psychische Gesundheit sowie Lebensqualität und soziale Einbindung verbesserten sich in vergleichbarem Maß. Auch auf lange Sicht nach Ende der unmittelbaren Therapie waren beide Behandlungsverfahren ähnlich erfolgreich.

Alternative zu schwer erreichbarem Ziel der Abstinenz vorhanden

Dr. med. Jonathan Henssler

Dr. med. Jonathan Henssler

Birgit Formann,Charité - Universitätsmedizin Berlin

„Natürlich ist die Abstinenz schon allein wegen der geringeren gesundheitlichen Folgeschäden ein vorteilhaftes Therapieziel“, sagt Baethge. Der Psychiater und Psychotherapeut gibt aber zu bedenken, dass dies für viele Betroffene ein unerreichbares Ziel ist bzw. eine Hürde, an der sie womöglich bereits mehrfach gescheitert sind. Ein großer Anteil von Patientinnen und Patienten traue sich das Konzept des reduzierten Trinkens eher zu als eine strikte Abstinenz. „Interessanterweise entscheidet sich ein Teil der Betroffenen im Therapieverlauf noch für das jeweils andere Therapieziel. So entschloss sich ein Drittel derjenigen, die zunächst das Ziel ,kontrolliertes Trinken‘ gewählt hatten, im Verlauf der Behandlung für das Ziel Abstinenz – das entkräftet einen wichtigen Kritikpunkt gegen das kontrollierte Trinken“, erklärt Baethge.

Im nächsten Schritt will das Forschungsteam um Baethge und Henssler seine Erkenntnisse gezielt verbreiten und diskutieren – mit Ärztinnen und Ärzten, Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, die über Therapien entscheiden und sie umsetzen müssen, mit alkoholabhängigen Menschen und ihren Interessenvertretungen, die einen Ausweg aus der Krankheit suchen, sowie mit anderen Forschenden, die den nach wie vor dringenden Bedarf an aussagekräftigen wissenschaftlichen Studien decken sollen. Auf trialogischen Fachkongressen, so der Vorschlag von Baethge, sollten die genannten drei Gruppen ihre Perspektiven einbringen und gemeinsam Ideen entwickeln, wie Alkoholabhängigkeit künftig erfolgreicher therapiert werden kann. So könnten am Ende mehr Betroffene von einer Behandlung profitieren. 

Originalpublikation:
Henssler, J., Müller, M., Carreira, H., et al. (2021). Controlled drinking – non-abstinent versus abstinent treatment goals in alcohol use disorder: a systematic review, meta-analysis and meta-regression. Addiction 2021; 116(8): 1973–1987, DOI: 10.1111/add.15329

Projektleiter:
Prof. Dr. med. Christopher Baethge
Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Universitätsklinikum Köln
Kerpener Straße 62
50937 Köln
cbaethge@uni-koeln.de

Ansprechpartner:
Dr. med. Jonathan Henssler
Charité – Universitätsmedizin Berlin
Psychiatrische Universitätsklinik der Charité im St. Hedwig-Krankenhaus
Große Hamburger Straße 5−11
10115 Berlin
jonathan.henssler@charite.de