14.11.2022

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Interview: „Fluch großer Datenmengen bannen und den Segen einer umfassenden Verhaltensanalyse ermöglichen“

Im Verbundprojekt NoSeMaze wird ein vollautomatisiertes Maushabitat entwickelt, das erlaubt, Verhalten von Mäusen im Sinne des Refinement in humaneren Experimenten in Bereichen zu untersuchen, in denen Tierexperimente gegenwärtig nicht ersetzt werden können.

Portrait Professor Dr. med. Wolfgang Kelsch

Univ.-Prof. Dr. med. Wolfgang Kelsch ist Leiter der Arbeitsgruppe Systemische Neurowissenschaften und geschäftsführender Oberarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Mainz.

Bild AG/Kelsch

Prof. Dr. Wolfgang Kelsch der Universitätsmedizin Mainz erläutert Motivation und Bedeutung des innovativen Systems für Tier und Mensch.

Herr Dr. Kelsch, welche Ideen und Ziele verfolgen Sie im Verbundprojekt NoSeMaze?

Als Psychiater stelle ich mir immer wieder die Frage, welche Erkenntnisse, die wir in der Forschung mit Tieren gewinnen, sich auf den Menschen übertragen lassen. Dies ist eine Herausforderung. In der Forschung zu Ursachen und Therapien der Depression betrifft dies die teils verwendeten recht artifiziellen Stressoren als auch die Indikatoren, mit denen bestimmt wird, wie „depressiv“ ein Versuchstier ist. Dazu kommt, dass eine Reihe von Stressmodellen in Tieren schwer belastend sind. Aus Gründen des Tierschutzes und des wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns erscheint es wichtig darüber nachzudenken, ob schwer belastende Experimente durch natürliche Stressoren ersetzt werden können, die aus dem normalen Sozialverhalten der Tiere erwachsen. Dadurch könnten wir bessere Modelle erhalten, mit denen wir die neurobiologischen Mechanismen verstehen könnten, warum ein Individuum resilient gegen Stress ist, während ein anderes dadurch aus der Bahn geworfen wird. In diesen natürlichen Stressmodellen können dann entsprechende Therapieansätze getestet werden. Hierfür sind jedoch neue experimentelle Ansätze erforderlich. Im BMBF-geförderten Projekt NoSeMaze nutzen wir soziale Hierarchien als Stressor, die sich in Mauskolonien natürlich ausbilden und einer der wichtigsten und gut übertragbaren Faktoren für das Auftreten von Depressionen ist. Es ist ein sehr spannendes Projekt, weil wir im Verbund mit dem Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung viele technische und biologische Expertisen zusammenbringen.

Wie können Sie zu verbesserten Haltungs- und Versuchsbedingungen beitragen?

Hier kommt ein ganz wesentlicher Aspekt ins Spiel. Die meisten klassischen Verhaltenstests werden mit Tieren gemacht, die einzeln gehalten werden. Das ist nicht nur aus Gründen des Tierwohls fraglich, sondern führt auch dazu, dass Effekte verschwinden, wenn Tiere in einem normalen sozialen Gefüge leben. Dieses hat eine enorme puffernde Wirkung auf den Umgang mit Stress. Wir wollen also verstehen, wie soziale Hierarchie als natürlicher Stressor in einer möglichst realen Lebensumwelt mit anderen Tieren wirkt. Die hochdimensionale Erfassung von Verhalten kann dann für die Untersuchung neuer Therapieansätze eingesetzt werden. Dies klingt vielleicht zunächst trivial, ist aber kaum verstanden und klinisch relevant. Wir haben also ein Habitat entwickelt, in dem Tiere über Wochen und Monate in Kolonien zusammenleben, ohne dass sie direkten Kontakt mit dem Experimentator haben. Die Tiere werden währenddessen durch Sensoren und Kameras beobachtet, um die sozialen Netzwerke und die Hierarchie zu messen. Auch komplexe kognitive Funktionen wie Belohnungslernen und deren Beziehung zum Sozialverhalten werden für jedes Individuum erfasst. Nach William Russel und Rex Burch, den Vätern des 3R-Prinzips, entspricht dies einem humanen Experimentieren, bei dem die natürlichen Verhaltensmuster von Tieren unter Minimierung der Belastung genutzt werden. Daher rührt auch das Projektakronym NoSeMaze, das für non-invasive sensor-rich maze steht. Dies ist im Sinne des Refinement und wichtig für die Validität der Befunde.

Copyright: Dr. Wolfgang Kelsch; Eigene Darstellung

Dr. Wolfgang Kelsch; Eigene Darstellung

Sie generieren im Rahmen des Projekts große Datenmengen. Wie gehen Sie damit um?

Große Datenmengen können ja ein Fluch und Segen zugleich sein. Das war uns von Anfang an bewusst. Ein wesentliches Ziel war es daher, das System so aufzusetzen, dass für bestimmte Verhaltensdomänen wie soziale Hierarchie und Belohnungslernen die Analysen erstmal automatisiert ablaufen.  Das bedeutet, dass die Software so geschrieben wurde, dass die erhobenen Daten direkt extrahiert werden und damit gut zu handhaben sind. Dies ist durch die enge Zusammenarbeit in unserem Team mit Experten und Expertinnen aus den Neurowissenschaften, der Physik und dem Ingenieurswesen im Projekt möglich. Eine größere Herausforderung stellten die Videoanalysen der sozialen Interaktionen vieler Tiere da. Bisher war dies mit vielen Tieren nicht möglich, ohne dass beispielsweise die Identitäten der Tiere über die Zeit zunehmend vertauscht wurden. Durch Optimierung und eines nunmehr großen Trainingsdatensatzes erhalten wir nun mit zunehmend weniger Aufwand die komplexen sozialen Interaktionen mit sicherer Zuordnung der Individuen. Ziel ist es, das System in naher Zukunft so weiterzuentwickeln, dass die aufgenommenen Daten kontinuierlich ohne wesentlichen Arbeitsaufwand ausgewertet werden. Hier sind wir nahe dran. Ist dieser Schritt gemacht, ist der Fluch großer Datenmengen gebannt und mit NoSeMaze haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler den Segen einer umfassenden Verhaltensanalyse.

Wie steht es um die Weiterverwertung des NoSeMaze Systems?

Dadurch, dass unser Ziel ist, gerade die Datenflut durch Automatisierung der Analysen zu reduzieren und gut handhabbar zu machen, ist genau dies ein großes Plus von NoSeMaze. Zwei Aspekte sind hierbei wichtig: Erstens ist das NoSeMaze System open source und als offen erweiterbare Architektur aufgesetzt. Forschende haben ja nicht alle die gleichen Fragestellungen. Durch die Modularität der Hardware und der Software kann das System mit entsprechenden technischen Kenntnissen beliebig umgebaut werden. Zudem wollen wir in einer möglichen Anschlussförderung die validierten Analysen und auch die Steuerung des NoSeMaze-Systems mit einer komfortablen Benutzeroberfläche und leicht verständlicher Dokumentation ausstatten, sodass Experimente ohne Programmierkenntnisse durchgeführt und analysiert werden können.

Welche Schritte gehen Sie mit Ihren Teamkolleginnen und -kollegen konkret an und was ist Ihre Vision für die Zukunft?

Als erstes geht es jetzt darum, die Analysen zu validieren. Dann geht es um die Erprobung neuer Module und das Ausrollen gerade entwickelter Module wie die Umweltsensorik im NoSeMaze. Mit dieser soll im nächsten Schritt an vielen Punkten des Habitats gemessen werden, um optimale Haltungsbedingungen zu schaffen und Umwelteinflüsse auf das Verhalten zu verstehen. Eine wesentliche Weiterentwicklung, und das ist eine Vision für die nahe Zukunft, wollen wir auch die komplexen sozialen Interaktionen so schnell analysieren, dass wir Interventionen beispielsweise in den Belohnungsaufgaben oder die Gabe von Pharmaka automatisiert für einzelne Individuen während des Experiments verändern können, um kausale Zusammenhänge zu testen. Langfristig wollen wir das offen erweiterbare System in der psychiatrischen translationalen Forschung verbreiten, im Sinne des Tierwohls und des wissenschaftlichen und klinischen Fortschrittes.