14.11.2022

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Interview: „Inhaltsstoffbewertungen, auch von ganz neuen Substanzen, mit Alternativmethoden ermöglichen“

In der EU sind Tierversuche für Kosmetikprodukte bereits seit 2004 – und für alle Inhaltsstoffe dieser Produkte seit 2013 – vollständig verboten. Wir sprachen mit Dr. Andreas Schepky über das jahrelange Engagement der Beiersdorf AG auf dem Gebiet der 3R.

Dr. Andreas Schepky

Dr. Andreas Schepky ist seit 1995 Mitarbeiter der Beiersdorf AG, seit 2007 Abteilungsleiter Toxikologie und vice chair des Core Science Team im neuen Gremium "International Collaboration on Cosmetics Safety (ICCS)"

Beiersdorf/Henriette Pogoda

Herr Dr. Schepky, Beiersdorf engagiert sich seit fast 40 Jahren intensiv für die Entwicklung und Akzeptanz von alternativen Testmethoden. Welche alternativen Testmethoden setzen Sie bei Beiersdorf bereits erfolgreich ein?

Wir sind u.a. an der Entwicklung und Validierung von Schlüsselmethoden beteiligt, die heute von der OECD (Organisation for Economic Co-operation and Development) international akzeptiert und durch wichtige Aufsichtsbehörden bereits anerkannt werden. So stammt die erste alternative Testmethode mit OECD Guideline zum Beispiel aus unserem Labor: 1992 entwickelten Forscherinnen und Forscher von Beiersdorf die Basis-Methode des sogenannten 3T3-Neutral Red Uptake Phototoxizitätstests und setzten damit einen wichtigen Meilenstein. Der Test war die erste Tierversuchs-Alternativmethode, die nach einer formalen Ringstudie zur Validierung behördlich akzeptiert wurde – 2000 in der EU und 2004 im Bereich der OECD. Heute ist der Test zur Verträglichkeitsprüfung neuer Inhaltsstoffe unter dem Einfluss von UV-Licht weltweit Standard und der erste In-vitro-Test, der auch beispielsweise in China anerkannt wurde.

Eine große Chance für die Entwicklung alternativer Testmethoden und die Überprüfung der Sicherheit von kosmetischen Produkten und Inhaltsstoffen sind auch die sogenannten Multiorganchips. Hier kooperieren wir seit 2014 mit dem Berliner Biotech-Unternehmen TissUse. Durch die Simulation des Zusammenspiels verschiedener Organe und sehr vieler damit verbundener Wechselwirkungen ermöglicht diese moderne Technologie, neue Wirkstoffe auf ihre Unbedenklichkeit prüfen zu können.

Alternativmethoden setzen wir mittlerweile in allen Forschungsfeldern ein. Ein Fokus liegt insbesondere auf dem Gebiet der Testung von Inhaltsstoffen, z. B. zur Bewertung des Haut- und Augenreizungspotentials, der Hautpenetration, metabolischen Stabilität von Substanzen, Sensibilisierung und Gentoxikologie, Hier arbeiten wir auch weiterhin mit anderen Partnern und Interessengruppen intensiv daran, die noch bestehenden Lücken (z. B. Toxikodynamik) zu schließen. Die digitale Toxikologie wird immer wichtiger und auch hier entwickeln und nutzen wir bereits neue Methoden.

Welche Schwierigkeiten sehen Sie im Transfer von Alternativmethoden bzw. der Implementierung neuer Methoden bei sich im Labor?

Die Erforschung und Nutzung von Alternativmethoden ist aufwändig und komplex. Daher ergeben sich große Herausforderungen, die unter anderem einen Ressourcenaufbau benötigen und hochqualifizierte Fachkräfte. Moderne Toxikologinnen und Toxikologen sind allerdings sehr rar, weil europaweit nur wenige ausgebildet werden. Hier müssen mehr Anstrengungen von allen unternommen werden, Alternativmethoden und das sogenannte „Next-Generation Risk Assessment“ bekannter zu machen und die Ausbildung auf dem Gebiet zu fördern.

Das Bundesnetzwerk 3R soll ja vor allem der Vernetzung unterschiedlicher Stakeholdergruppen aus allen beteiligten Bereichen in Wissenschaft, Wirtschaft und auf Behördenseite dienen. Welche Themen sollen aus Ihrer Sicht hier im Vordergrund stehen?

Alternative Testmethoden sind nicht nur aus ethischen Gründen das Mittel der Wahl, sondern sie beschreiben auch die Mechanismen möglicher toxikologischer Effekte auf den Menschen viel realistischer. Diese Chance sollte zukünftig noch mehr genutzt werden. Aus meiner Sicht ist der hier bereits eingeschlagene Weg unumkehrbar, was ich sehr begrüße. In der EU gilt seit 2013 ein vollständiges Tierversuchsverbot für kosmetische Inhaltsstoffe. Leider erkennen offizielle EU-Behörden aber oftmals neuere alternative Testmethoden nicht immer an. Diese Politik erschwert die aufwändige Entwicklung alternativer Verfahren. Somit brauchen wir unbedingt mehr Offenheit für das schrittweise Ausprobieren und Zulassen neuer Verfahren, wofür die kosmetische Industrie mit ihrer langjährigen sehr guten Sicherheitsbilanz geradezu prädestiniert ist. Außerdem dauert die Validierung der Methoden in den meisten Fällen sehr lange. Wir müssen gemeinsam daran arbeiten, die notwendige Qualität der einzelnen Methoden sicherzustellen und erfolgsversprechende Alternativmethoden nicht nur am Anfang, sondern bis zur abgeschlossenen Validierung zu unterstützen und zu fördern. Hierbei ist es auch wichtig, für jeden toxikologischen Endpunkt einen Leitfaden zu haben, der die einzelnen notwendigen Testmethoden integriert und eventuelle Lücken aufzeigt. Diese Lücken kann man dann proaktiv adressieren und entsprechende Testmethoden gezielt entwickeln.

Wo sehen Sie die 3R-Forschung in Zukunft – etwa in 5 Jahren?

Aus Sicht der Kosmetikindustrie, in der Tierversuche in der EU bereits seit 2013 vollständig verboten sind, ist es von großem Interesse, dass wir über die eigene Forschungsarbeit, aber auch in Zusammenarbeit mit anderen Partnern, die bestehenden Lücken schließen und Inhaltsstoffbewertungen, auch von ganz neuen Substanzen, mit Alternativmethoden ermöglichen. Die digitale Toxikologie wird dabei ebenfalls zunehmend eine große Rolle spielen z. B. bei Vorhersagen oder Modellierungen. Allerdings dürften die Akzeptanz der einzelnen Methoden und der Validierungsprozess leider länger dauern.